Corona-Virus Christian Meyer

Das Corona-Virus und die innere kopernikanische Wende

Das Corona-Virus und die innere kopernikanische Wende

Was hat das Corona-Virus mit der Spiritualität zu tun? Oft scheint es in der Diskussion nichts zu geben zwischen der Verkündigung von absoluten Wahrheiten und einer ängstlichen Haltung, dass man gar nichts wissen könne, dass alles Gesagte unrichtig, ja gelogen sei. Und überall die Vereinfachung, es gebe zwei Lager, die wie im Krieg meistens Fronten genannt werden.

Die Möglichkeit des Gesprächs, des Abwägens, des Nach-Denkens scheint verschwunden, auch dass es eine dritte, eine vierte, eine fünfte Position und Meinung geben könnte. 

Das ist traurig. Das ist eine gesellschaftliche Krise. Je größer die Unsicherheit über die Zukunft und über das Handeln, desto stärker das Verkünden absoluter Wahrheiten, um sich an etwas festhalten zu können. Auch auf Seiten des Staates. Welche Meinung man zum Impfen auch haben mag, die einseitige Orientierung ist pure Dummheit und erzeugt und verschärft die gesellschaftliche Spaltung. Was ist mit der Stärkung der Immunkräfte? Eine Diskussion darüber, was Gesundheit ist? Was Gesundheit fördert und erhält? Was ist mit unserem Lebenswandel? 

Es hat immer wieder wichtige gesellschaftliche Diskussionen gegeben, die Gesellschaft ist daran gewachsen und jetzt besteht die Gefahr, dass sie Schaden nimmt. Und es ist unsere Aufgabe, für Verstehen und Verständnis, für Offenheit und Respekt einzutreten, wo es möglich ist.

Wohin mit der Wut?

Zu Anfang der Krise habe ich ein Retreat gemacht, dessen wichtigste Teile in dem Buch „Angst, Schmerz, Wut, Ohnmacht – Durch Gefühle Freiheit finden, gerade in Zeiten einer Krise“ veröffentlicht sind. Eine Entdeckungsreise zu den Gefühlen, um sie lösen zu können. Wut wurde immer wieder voller Überraschung entdeckt. Wir können doch nicht auf ein Virus wütend sein? Damit wird die Wut verdrängt, sie bleibt im Untergrund und wird dann, unerlöst, auf irgendetwas anderes gerichtet. Bedrohung und Einschränkung erzeugt Wut; Wut auf das Schicksal, auf die Bedrohung. Und sie muss akzeptiert werden, weil sie da ist, die Wut ist zu fühlen, auszuhalten und dadurch zu erlösen. Nur dadurch bleiben wir lebendig. Aber, und das ist vielleicht noch wichtiger, dadurch erst vertieft sich das Loslassen, und das Loslassen ist die grundlegendste Bedingung für das Aufwachen. Dem Aufwachen dient nicht, Gefühle nur zu wissen und zu beobachten, weil sie sich dadurch nicht lösen. Damit entstehen viele Fragen über herkömmliche Meditation, in der vielleicht stundenlang der Atem beobachtet und dadurch Gefühle beiseitegeschoben werden. 

Was aber geschieht mit der Wut, wenn sie verdrängt wird? Sie richtet sich auf die Ungeimpften oder die Geimpften oder Die-da-oben. Oder gegen sich selbst. Und wirkt überall zerstörerisch.

Die spirituelle Krise und die „Innere kopernikanische Wende“

Das Virus ist Teil einer Naturkrise, die wir zu verantworten haben. Wissenschaftler aus der Biologie sagen, dass die Krise als Folge des Aussterbens von Arten schlimmer sein wird als alle anderen Krisen. Was machen wir, wenn es nicht mehr genug Bienen gibt? Wir nehmen den Tieren den Lebensraum, sodass Viren immer häufiger auf den Menschen überspringen.

Es ist eine geistige, eine spirituelle Krise. Die Neuzeit und die Post-Neuzeit leben mit dem Mythos von Macht und Kontrolle. Wir könnten immer größere Macht und Kontrolle über die Natur, über den Menschen, über die Welt erringen und dadurch alle Probleme lösen. Und manchen dämmert es, genau das ERZEUGT Probleme. Der Mensch, der sich als den Mittelpunkt von allem sieht, um den die anderen Menschen und die Natur zu kreisen haben, hätte zu realisieren, dass jeder einzelne und die Menschheit nur ein Teil vom Ganzen ist. Dass wir gemeinsam kreisen um etwas Größeres. Ein Philosoph hat dies die „Innere kopernikanische Wende“ genannt, viel wesentlicher und wirkungsvoller als die Veränderung unseres Wissens über die Sonne. Ja, das würde uns demütiger machen. Da würden wir mit unserer Ichhaftigkeit zurücktreten. Das wäre ein wichtiger spiritueller Schritt, das wäre ein Schritt auf die Erleuchtung hin, in der sich die gesamte Ich-Idee als eine Illusion zeigt.

Die Kultur einschließlich der Wirtschaft war über Jahrtausende der Weg, uns vor den Gefahren der Natur zu SCHÜTZEN. Jetzt haben wir Technik und Wirtschaft so sehr entwickelt, dass sie zur GEFAHR für die Natur und unsere Lebensgrundlagen geworden sind, eine existentielle Krise. Guardini schrieb diesen Gedanken 1949 (!), geradezu prophetisch klingt er im Nachhinein. 

Das Virus hat gezeigt, dass die Sicherheit in der materiellen Sphäre immer brüchig ist und bleiben wird. Es ist ja nicht so, dass der atheistische Mensch keine Religion hätte. Er betet nur anderes an. Die Wissenschaft. Das Wachstum. Das Geld. Die Macht. Die Kontrolle.

Zu Anfang der Zeit des Virus gab es einen großen Schrecken, aber auch große Hoffnung. Dass dieses erzwungene Innehalten die Menschen zum Nachdenken bringen würde. Über unsere Art zu leben, darüber was wir aus unserem Leben machen. Darüber, was wirklich zählt. Dass wir langsamer machten. Die Mitmenschlichkeit, wo Kontakte weniger wurden, wurde plötzlich wertvoller. Die Krise könnte wie ein kosmischer Weckruf wirken. Was ist übrig geblieben von dieser Hoffnung? Das macht traurig und schmerzt. Zu dem Leid, dass das Virus erzeugt hat, kommt der Schmerz, dass all dieses Leid umsonst gewesen sein könnte.

Der Weg zum Glück und die Erleuchtung

Die Weisen dieser Welt wissen es seit tausenden von Jahren: Der Weg zum Glück und zur Glückseligkeit geht nach Innen. Gerade weil die Objekte und Erlebnisse in der äußeren Welt nie die versprochene Erfüllung bringen, müssen Sie immer größer, immer fantastischer, immer Reiz-intensiver werden, ganz so wie der Drogensüchtige die Dosis ständig erhöhen muss. Das ist der eigentliche Grund für die Entgleisung des Wachstums. Es ist nicht einfach zu viel, die Richtung stimmt nicht. Unbegrenztheit gibt es nur in der spirituellen, nicht in der materiellen Dimension. Der Mensch hat eine tiefe Ahnung und Sehnsucht nach dieser Unbegrenztheit. Weil er diese spirituelle Sehnsucht nach der Unendlichkeit verdrängt, tobt er sie als ein materielles Streben aus.

Ja, ich erlebe, dass sich gegenwärtig mehr Menschen dem Spirituellen zuwenden. Aber auch, dass viele leiden unter Resignation und Hoffnungslosigkeit. Dabei ist Erleuchtung nicht ein Rückzug von der Welt. Natürlich wird dann vieles langsamer. Das Getrieben-sein hört auf. Von denen, die Erleuchtung gefunden haben, geht Frieden aus. Menschen, das ist offensichtlich, tut es gut, in der Nähe von aufgewachten Menschen zu sein. Es öffnet sie. „Satsang“ heißt übersetzt: Zusammensein in Wahrheit. Auf Retreats oder Treffen äußert immer wieder jemand seine Verwunderung darüber, wie viele intensive innere Prozesse geschehen, intensive Entdeckungen über die innere Wahrheit, über tiefere Wünsche und Gefühle. Ja, der aufgewachte Lehrer, die aufgewachte Lehrerin stellen einen Bewusstheits-Raum zur Verfügung als eine Einladung. Es wird begonnen, solche Bewusstheits-Räume wissenschaftlich zu erforschen und zu belegen. Es ist kein Rückzug von der Welt, allerdings das Ende des Anbetens von Wachstum, Macht, Geld und materieller Kontrolle. 

Gegenwärtig heißt spirituell sein auch, wo es geht, für Verstehen, Verständigung und Respekt einzutreten. Für die Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, von Unsicherheit auch. Tatsächlich ist Sicherheit ganz woanders zu finden, in einer Tiefe, von der die meisten Menschen noch nicht mal eine Ahnung haben. Dadurch wird das Materielle nicht sicherer. Manche glauben in ihrer Einfalt, dass der spirituelle Mensch sich die Welt schön-reden würde, schön-meditieren sozusagen. Nein. Er oder sie hat nur entdeckt, dass Erfüllung, und zwar unendlich viel größer als der Mensch glaubt, woanders zu finden ist. Durch die eigene innere Tiefe hindurch. In der Unendlichkeit.

Erleuchtung ist möglich für jeden

Das eigentliche Ziel der Spiritualität ist die Erleuchtung. Aber auch im spirituellen Raum geben sich viel zu viele mit so viel weniger zufrieden, halten Erleuchtung gar nicht für möglich. Immer wieder verwundert mich das, und oft ist es sehr schmerzlich. Die spirituelle Suche wird eingeschränkt aus Resignation, viele haben schon so lange versucht, Erleuchtung zu finden, dass sie aufgegeben haben. Bleibt da noch Raum für das Nachdenken, dass man es bisher vielleicht nur mit den falschen Mitteln versucht hat? Ich erlebe in meinen Retreats, dass Aufwachen wirklich geschieht. Gegenwärtig mache ich erneut über viele Monate ein Training nur für Schülerinnen und Schüler, die aufgewacht sind. Mit über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das zeigt nicht nur, dass in meiner Arbeit Aufwachen geschieht, sondern auch dass wir uns inzwischen immer mehr mit der Vertiefung der Erleuchtung befassen. 

Menschen darin zu unterstützen, Erleuchtung zu finden, ist das eine. Es ist auch wichtig, dass in der öffentlichen Diskussion, auch im Mainstream, in der Mitte der Gesellschaft, nicht nur Spiritualität, sondern auch das Aufwachen und die Erleuchtung präsent werden. Als eine wertvolle Option für das Leben. So viele Menschen fühlen die innere Sehnsucht, und viel zu oft wird nicht erkannt, worauf sie sich richtet.  Die Welt hat es dringend nötig. Es könnte damit anfangen, dass in der spirituellen Szene über das Aufwachen, über Erleuchtung konkreter gesprochen wird. Wie es geschehen kann, was dazu hilft, und woran es liegt, dass es insgesamt viel öfter geschehen könnte.

Wenn so die Krise dazu führen würde, dass vielen Menschen wieder deutlicher wird, was wirklich wichtig ist, dann hätte die Krise auch ihr Gutes.

Christian Meyer

Gedanken zur Coronakrise

Gedanken zur Coronakrise

Jetzt hat es also ganz schön lange gedauert, bis zu meinem zweiten Blogbeitrag. Aber das Thema ist so vielschichtig.

In dieser Krise stehen sich Gruppen gegenüber, feindselig und unversöhnlich. Die einen scheinen das Regierungshandeln gegenüber dem Corona-Virus und die Einschränkungen von Bewegung und Kontakt in ungebrochener Weise und in „abwegig hohem Ausmaß“ – so stand es in einem politischen Kommentar – zu unterstützen, die anderen halten das Corona-Virus für nicht gefährlicher als ein normales Grippe-Virus und alles für ein globales Komplott. Es werden Freundschaften aufgekündigt, es werden keine Argumente ausgetauscht, sondern eher an den Kopf geworfen, Annäherungen und Zwischentöne verschwinden.

Warum? Insgesamt in der Gesellschaft nimmt die Aggressivität in beängstigendem Ausmaß zu. In den sozialen Medien, im Fernsehen, auf der Straße, zwischen Nachbarn. Das ist sicher ein Grund. Aber nicht der wichtigste.

Die Angst und der Schmerz

Zu Beginn der Corona-Krise habe ich ein Online-Retreat gemacht, in dem wir die verschiedenen Gefühle erforscht und verarbeitet haben, die vom Corona-Virus ausgelöst wurden. (Von diesem Seminar kann ein konzentriertes Video mit allen Übungen zu den verschiedenen Gefühlen heruntergeladen werden über www.zeitundraum.org

Zuerst die Angst. Angst vor dem Virus, vor Krankheit, vor dem Verlust von Freunden und Verwandten und die Angst vor den Folgen der Krise, Angst vor dem Alleinsein und den Einschränkungen von Kontakt und Bewegung. Mir ist nie eine übermäßige Angst vor dem Virus begegnet, nirgendwo eine oft behauptete Panik-Reaktion. Vorsicht ja, auch Besorgtheit, aber Panik?

Als nächstes der Schmerz. Jetzt, wo wir schon einige Zeit mit dem Corona-Virus leben, ist dieser Schmerz und die Trauer noch deutlicher zu fassen. Die Menschen leiden darunter, dass man sich nicht mehr selbstverständlich umarmen und körperlich nähern kann, den, der weint, nicht mehr einfach in den Arm nehmen kann.  Viele Menschen leiden unter finanziellen Einbußen, viele unter dem Verlust der Arbeit oder ihres Geschäftes oder ihres kleinen Restaurants, das sie in vielen Jahren aufgebaut haben. Das ist ein zentrales Thema: wer hat die Folgen des Corona Virus zu tragen? Sind es die Menschen, die sowieso am wenigsten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum haben? Die sowieso benachteiligt sind? Werden mit den Milliarden Steuergeldern Autokonzerne unterstützt, oder die tausenden Kulturschaffenden, Künstler, Musiker, Theaterleute? Die Kinder in Reichen und gebildeten Familien hatten Homeschooling, die armen Kinder oft keinen Laptop und keine Unterstützung. War das nicht verstörend, dass dazu auf all den Corona-Demonstrationen nicht ein Wort zu hören war?

Der Hunger in der Welt, in Afrika und anderen Ländern, nimmt wegen der Coronakrise zu. Die Zahl der unterernährten Menschen könnte bis Ende des Jahres auf 1 Milliarde steigen, die Zahl der vom Hungertod bedrohten sich auf 270 Millionen verdoppeln. (Welternährungsbericht der Vereinten Nationen) Auch das die negative Seite der Globalisierung, auch da die Frage: wollen wir, dass nur ein Teil der Menschen die Folgen der Krise tragen?

Die Wut und Ohnmacht fühlen

Nach Angst, Schmerz und Trauer kam als nächstes die Wut. Die Wut auf das Virus. Da gab es die größten Überraschungen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Retreats: die Überraschung nämlich, dass und oft in welcher Heftigkeit diese Wut bei ihnen selbst auftauchte. Sie war vorher nicht bewusst. Wie kann man auch auf einen Virus wütend sein, das seiner biologischen Bestimmung folgt. Aber es zeigte sich, die Wut war da. Und sie musste da sein, Angst und Schmerz erzeugen immer Wut, natürlicherweise. Die Wut ist da, unabhängig von der Rationalität von Verursachung und Verantwortung. Und für sie gilt in besonderer Weise, was für alle Gefühle gilt:

Gefühle, die verdrängt werden, werden destruktiv und versauen einem das Leben. Sie verschlingen Unmengen an Energie, nichts verursacht so viel Erschöpfung, soviel Ausgebrannt-sein wie verdrängte Gefühle. Da wird die Energie des Gefühls selbst unten gehalten, und eine zweite genauso große Energie verbraucht, diese Gefühle nicht zu fühlen.

Dann erforschten wir die Ohnmacht, die Ohnmacht gegenüber einem unsichtbaren und in vielen Fällen tödlichen Virus. Ich bin ganz sicher, das Trauma der Pest im 14. Jahrhundert, bei dem in Europa ein Drittel bis zur Hälfte der Menschen umkamen, in China sogar zwei Drittel der Menschen starben, diese traumatische Erfahrung steckt der Menschheit noch in den Knochen. Genauso wie die Spanische Grippe, die die Menschen in Europa heimsuchte, als gerade der Schrecken des Ersten Weltkriegs überwunden war und die mehr Menschenleben kostete als der erste Weltkrieg, wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass die Abwehrkräfte der Menschen wegen des Krieges und des Hungers sehr geschwächt waren.

Ist es ein Wunder, dass wir jetzt alle sehen, die Gefährlichkeit und die Tödlichkeit des Corona-Virus in den ersten Monaten überschätzt wurde? Aber ist nicht, angesichts von über 200.000 Toten in den USA und vergleichbaren Zahlen in einer ganzen Reihe anderer Länder gegenüber jährlich 25-30.000 Grippe-Toten in den USA, die Behauptung genauso unsinnig, das Coronavirus wäre nicht gefährlicher als die normale Grippe? Obwohl in den USA zwar zögerlich, aber dann doch in größerem Maße Infektions-hemmende Maßnahmen durchgeführt wurden? Und obwohl der Präsident der USA, dem diese hohe Zahl womöglich die Wiederwahl kostet, jede denkbare Möglichkeit ergriffen hätte, diese Zahl herunter zu rechnen?

Und wenn man so diese Übertreibungen ins Auge fasst, könnte da nicht ein gesellschaftlicher Diskurs stattfinden und private Diskussionen und Gespräche, die Annäherungen ermöglichen? Diskussionen, in denen man gemeinsam nachdenkt?

Die Ursache für die Unerbittlichkeit – ja von Diskussion kann man gar nicht sprechen – liegt darin, dass die Menschen den Schmerz und die Wut verdrängen, dass sie Schmerz und Trauer nicht wirklich fühlen, sich nicht eingestehen und die Wut auf irgendwen richten; auf die Maske, die man tragen soll, auf die Freunde, die eine andere Meinung haben, auf die Regierung, auf die Virologen, auf Verschwörungen oder Verschwörungs-Erzähler. Aber der Schmerz wird verdrängt, der Schmerz über die fehlende Nähe, die fehlenden Umarmungen, der Schmerz über die Einschränkungen, wenn das Einkommen nur noch die Hälfte beträgt.

Da sind Grundbedürfnisse betroffen. Grundbedürfnisse nach körperlicher Nähe, das Bedürfnis nach Lebenssicherheit, die sich in finanzieller Sicherung ausdrückt. Das Bedürfnis, einen geliebten Beruf weiter ausführen zu können. Das Bedürfnis nach kultureller Betätigung, Musik hören können in der Gemeinschaft mit anderen, live im Konzert und nicht nur von der Konserve zu Hause. Aber ist es ein Grundbedürfnis, zweimal im Jahr nach Mallorca zu fliegen, um sich möglichst billig am Ballermann zu besaufen? Muss man jedes Jahr für einige Wochen in irgendeinem Hotel im Süden am Swimmingpool liegen statt einer Fahrradtour durch das Hochsauerland oder entlang der Elbe? Ist es ein Grundbedürfnis, möglichst schnell möglichst viele neue Autos auf den Straßen zu haben, oder ist es nicht wichtiger, dass Kunst und Kultur auf den kleinen Bühnen am Leben bleiben?

Ist die Menschheit in der Lage zu lernen?

Das Schlimmste wäre, wir würden nichts lernen aus dieser Krise. Das Schlimmste wäre, danach würde alles so weitergehen wie zuvor, ja es würde schneller gehen, um den Wachstums-Rückgang möglichst schnell aufzuholen. Der Schaden für die Umwelt wäre unermesslich. Und für die Menschen vielleicht noch mehr. Es wäre so schrecklich, wenn die Toten umsonst gestorben wären, wenn unser aller Einschränkungen, unser Schmerz und unser Leid deswegen umsonst sein würden. Zu Anfang der Krise gab es neben dem Schock so viel Hoffnung, Hoffnung darauf, dass die Menschen diese Krise als Weckruf verstehen würden, dass die Lebensweise überdacht werden würde, dass die Menschen zur Besinnung kämen. Dass sie entdecken würden, dass Konsum eben nicht die Würde des Menschen schafft. Dass der möglichst billige Urlaub auf Mallorca eben nicht Lebensqualität darstellt oder Erholung für die Seele ist. Dass unser Glücklichsein nicht von der Zahl verkaufter Autos abhängt, egal mit welchem Motor. Dass die Gesellschaft, dass die Menschen wiederentdecken könnten, was wichtig ist, was eigentlich zählt.

Und das ist das eigentlich Tragische an der Unerbittlichkeit des Streits: dass diese Energie der Wut und der Empörung, die Energie des Schmerzes und des Leids, sich nicht umsetzt in gemeinsame Anstrengungen die Welt zu verbessern, sondern vergeudet und verschleudert wird in sinnlosem und fruchtlosem Streit, der kein Verständnis schafft, keine Annäherung, sondern Ablehnung und Hass.

Können wir das ändern? Können wir uns wieder daran erinnern, wie schnell die Flüsse sauberer wurden, Delphine sich im Hafen von Venedig tummelten, die Luft, so konnte man es vom Satelliten beobachten, in China wie in Europa sauberer, der Himmel wieder blau wurde? Daran erinnern, dass wir plötzlich Muße hatten, freie Zeit, dass manch einer jetzt erkannte, wie sehr er unter dem normalen Getrieben-sein eigentlich leidet und droht sich selbst zu verlieren? Daran erinnern, wie sehr wir Menschen als soziale Wesen einander brauchen, sodass wir versuchten, die Nähe und Zärtlichkeit, die wir körperlich weniger zeigen konnten, durch Worte auszudrücken? Anfingen, eine Sprache für die Poesie der Zärtlichkeit und der Sehnsucht wiederzufinden?

Erkennen, wie klein wir sind und wie groß wir sein können

Es ist doch unglaublich erstaunlich: Unsere Gesellschaft, von der vorher in der Klima-Debatte und vielem anderen immer behauptet wurde, dass sie in Sachzwängen und Strukturen so ohnmächtig und diktatorisch eingebunden sei, dass Änderungen gar nicht denkbar seien und schon gar nicht dann, wenn sie wirtschaftliche Rendite verringern würden, kann jetzt plötzlich ein gesellschaftliches Projekt eigentlich unvorstellbaren Ausmaßes realisieren. Nämlich durch gewaltige Anstrengungen und dem persönlichen Einsatz jedes einzelnen besonders die Risiko-Gruppen schützen, die zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören: die Alten, die Menschen mit den Vorerkrankungen, die Schwachen. Können wir dann nicht sagen: Wir können auch andere wichtige gesellschaftliche Projekte mit derselben Energie und derselben Durchschlagskraft realisieren, allen voran den Klimaschutz, der ja nicht weniger bedeutet, als die bedrohten Lebensgrundlagen zu sichern. Wir könnten die Arbeit und die Ressourcen gerechter verteilen. Es könnten menschliche Werte wieder gestärkt werden: Für-Einander-Da-Sein, Solidarität und Verantwortung, die Liebe zu den Menschen und zum Leben.

Geglaubte Sicherheiten gingen verloren. Sicherheiten, die es sowieso nie gab. Es sterben mehr Menschen an Hunger oder an verschmutztem Trinkwasser als am Corona-Virus. Wie zynisch ist das zu sagen, deswegen könnten wir die Corona-Toten, wovon ohnedies hauptsächlich nur die Alten betroffen wären, ruhig in Kauf nehmen? Statt zu sagen: wenn wir es schaffen, solche Anstrengungen zu mobilisieren, um das Virus in Schach zu halten, ja, können wir uns dann nicht auch den Problemen des Hungers, des sauberen Wassers und vieler anderer Krankheiten stellen, statt sie aus unserer Wahrnehmung zu verbannen?

Wo im Leben ist Sicherheit, wo Erfüllung und Glück?

Könnten wir nicht deutlicher erkennen, wie wertvoll und wunderschön dieses Leben ist, aber doch nie die Sicherheiten und die Erfüllung bietet, nach der der Mensch sich sehnt? Viele haben die Ruhe und die Stille, zu der sie vom äußeren jetzt gezwungen waren, für eine größere innere Ruhe und Stille genutzt, gerade gestern erzählte eine Retreat-Teilnehmerin, dass sie aufgewacht ist, weil sie sich der inneren Stille hingeben konnte aufgrund des beruflichen Shut-downs. Kann uns die Krise nicht tatsächlich deutlicher machen, wie unsicher die materielle Sphäre unseres Daseins tatsächlich ist und dass eigentliches Glück, das eigentliche Leben und wirkliche Erfüllung im Inneren zu finden sind und nicht im Außen, die Stille und Glückseligkeit, die so intensiv wie sie für den normalen Menschen unvorstellbar ist.

Es ist nicht nur Traum und Vision, immer wieder realisieren Menschen durch meine Arbeit das Aufwachen, die Erleuchtung.

Aus zwei Rückmeldungen von Schülerinnen möchte ich zum Schluss zitieren, die in den letzten Wochen aufwachten. Eine wachte auf, nachdem sie über mehrere Monate online-Videos von mir gesehen und dann einige Male in Begleitung die Bewusstheitsübung machte. Jetzt nach ihrem Aufwachen ist sie zum ersten Mal zum Retreat gekommen. Nach dem Retreat schrieb sie.

Lieber Christian, ich möchte mich noch einmal für das berührende Retreat bedanken. Da schwingt noch viel nach. Folgende Worte sind aus mir entsprungen und ich möchte Sie gerne mit dir teilen.

Die Freude in der Angst… Die Angst in der Freude

Mein tiefer Wunsch, mein Verlangen wird lauter, doch wohin damit? So viele Aber, so viele Gedanken, so viele Geschichten. Der Ruf meines Herzens wird lauter, ein Weghören nicht mehr möglich. Es ist an der Zeit. Das merke ich daran, dass ich keine andere Wahl habe als ihm zu folgen.

Während ich innerlich zittere und um Luft ringe, gebe ich mich hin. Die Angst so groß, scheinbar so unüberwindbar. Man muss sich dem Schmerz annähern, vorsichtig, behutsam anfreunden, um zu erblühen.

Ein Schmerz zerbricht die Schale, die den Verstand gut schützt, vielleicht schon ein Leben lang. Die Illusion wird zurücktreten und Platz machen.

Durch den Schmerz in der Angst wird die Liebe sichtbar. Keine Liebe zu mir, oder zu meinem Mann, oder zu meinen Freunden …  Zu einer LIEBE die ist. Einer Liebe im SEIN.

Eine Liebe, die kein Warum, kein Für-Wen, kein Nichts braucht. Im NICHTS ist ALLES und ALLES ist Liebe.

Es ist eine bewegende Erfahrung, dass Retreat-Teilnehmer und Teilnehmerinnen auch in meinen online-Retreats aufwachen, dass auch ohne direkte körperliche Präsenz die Energie und Unterstützung so stark sind, dass Erleuchtung geschieht. Eine andere Schülerin ist vor einigen Wochen aufgewacht, als ich sie online begleitet habe. Eine Rückmeldung von ihr nach dem Retreat in Würzburg, das live mit Einhaltung der Abstands- und Hygiene-Regeln stattgefunden hat.

Die Vertiefung für mich in dieser letzten Woche war so enorm intensiv und unermesslich, dass es mich in die Unendlichkeit katapultiert hat.

Ich bin Ewigkeit und Liebe.

Ich bin.

Und nur noch Stille. Sonst nichts.

Das Aufwachen, die Erleuchtung ist das größte Abenteuer des menschlichen Lebens. Das ist der Grund, weswegen wir auf der Welt sind. Und gleichzeitig können wir uns darum kümmern, wie wir miteinander umgehen, und mit der Erde, von der wir nur eine einzige haben. Und dann den Frieden, die Stille und die Lebendigkeit in die Welt bringen.

Kommt gut und gesund durch die Zeit.

Christian Meyer

Zwei Bereiche der Spiritualität – und was ist ein spiritueller Lehrer?

Zwei Bereiche der Spiritualität – und was ist ein spiritueller Lehrer?

Jetzt ist es soweit. Jetzt schreibe ich einen Blog. Da könnte jemand gleich als erstes denken: „Was? Muss das denn sein?“ Wo doch schon viel zu viel geschrieben würde, eine endlose Vergeudung von Zeit, und tatsächlich komme nur manchmal wichtiges dabei heraus. Man könnte es ihm nicht verdenken.

Überhaupt, die Arbeit des spirituellen Lehrers geschieht in den Retreats, was sollte er darüber hinaus zu sagen haben? Er ist auch in keiner einfachen Position: Die einen denken, der spirituelle Lehrer müsste mit so viel Weisheit gesegnet sein, dass er auch zu allen anderen Lebensfragen die richtige Antwort hat. So als ob, nur weil jemand aufgewacht ist, er deswegen auch über Gentechnik und alternative Energien Bescheid wissen müsse. Die anderen sagen genau das Gegenteil: Der spirituelle Lehrer habe zu Fragen der Ewigkeit und der Erleuchtung Auskunft zu geben, sich aber bei allem anderen vollständig neutral zu verhalten, eine politische Meinung dürfe er allenfalls privat in seinem Kämmerchen haben, ja am besten so, dass keiner davon je erführe.

Was überhaupt ist ein spiritueller Lehrer?

Er gibt Spirituelles weiter. Aber schon unter Spiritualität wird so viel Verschiedenes verstanden, folgende Unterscheidung schafft eine erste Klarheit:

Der Mensch ist ein geistiges Wesen; er ist nicht getrennt von den anderen, sondern verbunden mit allen Menschen, ja sogar verbunden mit allen Wesen und dem ganzen Kosmos. Er trägt Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch die anderen und die nachfolgenden Generationen. Er ist eingebunden in die Schöpfung und ein Teil von ihr. Es gibt eine größere Macht, wie auch immer sie bezeichnet wird, von der manche glauben, dass sie das Schicksal in der Hand hat, dass sie für die Schöpfung steht und diese Schöpfung hält.

Alles, was sich damit befasst, können wir die immanente Spiritualität nennen, die diesseitige Spiritualität. Sie beeinflusst und bestimmt die innere Haltung gegenüber dem was ist; sie verändert Bewusstseins-INHALTE.

Dann gibt es die transzendente Spiritualität. Sie befasst sich mit nicht weniger als mit der Erleuchtung, dem Aufwachen. Sie zielt ab auf die tatsächliche vollständige innere Transformation des Menschen. Nicht die Veränderung von Bewusstseins-INHALTEN, sondern die Veränderung der Bewusstseins-STRUKTUR ist ihr Ziel. Die Erfahrung von Ichlosigkeit, nicht für einen Moment oder einen bestimmten Zeitraum, die Erfahrung des eigenen Wesens als Unendlichkeit und Ewigkeit, als Zeitlosigkeit und Grenzenlosigkeit, die Erfahrung der wahren Natur als Frieden, unendliche Weite und Stille und als fundamentale bedingungslose Liebe – das ist das Ergebnis der Transformation, das Ergebnis des Aufwachens. Darauf zielt diese transzendente Spiritualität ab.

Natürlich kann die transzendente Spiritualität, und sie sollte es auch, die immanente Spiritualität mit umfassen, aber es ist wichtig, beides zu unterscheiden, damit man weiß, worüber man überhaupt spricht. Und ein spiritueller Lehrer? Ja, er ist natürlich aufgewacht, das sollte man von ihm erwarten. Es gibt natürlich welche, obwohl sie sich so nennen, bei denen dies nicht zutrifft. Darüber hinaus sollte er, das wäre meine Forderung, in der Lage sein, andere Menschen darin zu unterstützen, aufzuwachen. Denn was nutzt es den Menschen, wenn sie zehn Jahre bei einem „spirituellen Lehrer“ sitzen, hören, beherzigen, aber niemand von all diesen Menschen wacht auf? Was hat er dann von dem aufgewachten Sein des Lehrers? Also, aufgewacht hat der spirituelle Lehrer zu sein und in der Lage, andere Menschen zum Aufwachen zu unterstützen. Ein guter Tipp, wenn du auf der Suche bist: Schau, ob es aufgewachte Schüler oder Schülerinnen des Lehrers oder der Lehrerin gibt, und frage die, wie sie sich von dem Lehrer oder der Lehrerin unterstützt gefühlt haben, und auch, wie sie sich von ihm oder ihr unterstützt fühlen nach dem Aufwachen. Denn eins ist klar: wenn nach dem Aufwachen die wirksame, auf Erfahrung beruhende Unterstützung fehlt, dann ist die Gefahr groß, dass das Aufwachen sich nicht vertieft und auch nicht zur dauerhaften neuen Seinsweise wird. Und wie schade wäre das!

Wozu ein Blog?

Was also soll ich tun? Soll ich nun zu jedem Thema meine Meinung kundtun? Soll ich mich jeder Meinung enthalten und nur spirituelle Weisheiten von mir geben? Eben erst ist es mir aufgefallen, dass ich gar nicht weiß, was machen andere spirituelle Lehrer? Schreiben die jeden Tag einen Blog oder wenigstens einmal in der Woche? So als Ersatz für das frühere Wort zum Sonntag im Fernsehprogramm?

Natürlich, zu spirituellen Fragen fällt mir vieles ein. Aber das weiß ich auch, darauf werde ich mich nicht beschränken. Wenn ich das wollte, würde ich ein neues Buch schreiben. Und festlegen lassen will ich mich auch nicht. Das würde mir gegen den Strich gehen. Dann hätte ich meine Freiheit aufgegeben, mich auf den Augenblick einzulassen, und natürlich auch auf die Freiheit des Augenblicks. Der Augenblick ist die unendliche, grenzenlose Weite und die grenzenlose Tiefe. Die einzig wirklich relevante, die einzig wirkliche Erfahrung. Versunken in dieser Tiefe erscheint die klare Wahrnehmung, nichts anderes ist wirklich. Kein Corona-Virus, keine Kontaktbeschränkung, kein Politiker. All das ist nicht wirklich, weil es flüchtig ist und keinen Bestand hat. All das ist nicht wirklich, weil es aus Gedanken besteht, Gedanken die noch viel flüchtiger sind. Dieser Augenblick jetzt ist reine Glückseligkeit. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich, als ich vom Augenblick zu sprechen begann, so vollständig von ihm erfasst und aufgesogen wurde. Genauso fühlt es sich an, ein aufgesogen werden, manchmal sage ich auch, und manchmal trifft es das noch besser, wie aufgeschlürft von der Stille. Wie jemand eine Auster schlürfen mag, und kein Impuls irgendetwas zu schreiben. Nur Stille, unendliche grenzenlose Stille. Tatsächlich kommt es mir jetzt sehr zugute, dass ich die Worte nicht mit Fingern in die Tasten zu tippen brauche, sondern mein Sprachprogramm das übernimmt, während ich nur in ein Mikrofon zu sprechen habe. Dankbarkeit für die Technik.

Der Augenblick …

Der Augenblick ist die grenzenlose Tiefe, reine Glückseligkeit, Stille. Auch wenn es richtig ist, dass nichts anderes wirklich existiert, bedeutet es nicht, dass nichts anderes wichtig und von Bedeutung wäre. Das wäre ein Kurzschluss, auch wenn viele in der spirituellen Szene genau das denken. Als Analogie können wir einen nächtlichen Traum hernehmen; wenn wir morgens aufwachen, wissen wir, er war nicht wirklich. Wenn wilde Räuber uns im Traum ans Leben wollten, dann rufen wir jetzt nicht die Polizei. Und dennoch, dieser ganz und gar unwirkliche Traum hat Folgen, er   w i r k t   etwas, sodass er eigentlich   w i r k l i c h   zu nennen wäre. Er versetzt uns vielleicht den ganzen Tag in eine bestimmte Stimmung, vielleicht klingt das Aggressive nach, aus dem Traum, als wir zur Wehr zu setzen uns versuchten. Aufgrund dieser nicht gelösten aggressiven Stimmung zetteln wir womöglich einen Streit an, jetzt eben nicht mehr im nächtlichen Traum, sondern während des Tages. Womöglich einen Streit mit der Freundin, für die dies vielleicht der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, und sie zieht aus, verlässt uns, und schwört, uns niemals wieder sehen zu wollen. So hat dieser unwirkliche Traum womöglich eine gravierende Wirkung. Er war nicht bedeutungslos, schon gar nicht folgenlos.

Und so ist es auch mit dem Leben des Alltags, mit der materiellen Sphäre, in der wir der Welt, den anderen Menschen und auch uns selbst, dem Organismus, dem physischen, dem emotionalen und dem mentalen Organismus begegnen. Es ist nicht bedeutungslos, wenngleich unwirklich, ob dieser Organismus Leid verursacht für andere und auch sich selbst, oder aus der Liebe handelt. Es ist nicht bedeutungslos, wie das Leben auf dieser Erde weitergeht. Ob wir weiter unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören oder die Umweltkatastrophe noch abwenden können. Ob Krieg ist und Menschen leiden. Ob in den USA Polizisten jedes Jahr weit mehr als 1000 Menschen erschießen, vor allem farbige.

Das Leben zählt …

Das nun jetzt ist eine Standortbestimmung: Reines Advaita ist es nicht. Jedenfalls nicht das, was manche unter Advaita verstehen, die glauben, dass die Frage, ob Krieg ist und jemand stirbt unwichtig sei und sich auflöst in die Frage, wer das ist, der stirbt und dann zur Antwort führt, dass Leere, dass reines Bewusstsein nicht aufhören kann. Nein: Leid zählt. Liebe zählt. Die Lebensgrundlagen zählen. Ob das Miteinander von Selbstsucht und Zerstörung bestimmt ist oder vom Wunsch nach Frieden und Wohlergehen, vom Wunsch, dass auch der andere sich entfalten kann. All das zählt. Auch wenn man im Aufwachen so vollständig von der Stille erfasst wird, dass man weiß: Nichts sonst ist wirklich.

So habe ich mich in diesem ersten Blog doch zu etwas wichtigem hinbewegen lassen. Aus dem soeben Gesagten ergibt sich für mich nämlich: Ich werde mich einmischen. Ganz sicher nicht parteipolitisch, obwohl ich Partei ergreifen werde: für das Leben, für die Liebe, für den Augenblick und seine unendliche Stille und Glückseligkeit, Partei ergreifen für die Wahrheit, die Freiheit, für das Aufwachen.

So wie ich jetzt überrascht bin, denn von dem ganz wenigen, was ich vorher im Kopf hatte, war der selbstverständlichste Gedanke, dass ich etwas zum Coronavirus sagen wollte. Dazu ist es jetzt nicht gekommen, und ich denke: Vielleicht beim nächsten Mal. Von dem ich jetzt glaube, dass es das wahrscheinlich geben wird. Wahrscheinlich. Man denkt natürlich, dass ein einmaliger Beitrag nun nicht wirklich als ein Blog bezeichnet werden kann. Lassen wir uns überraschen.

Christian Meyer

Die Angst einladen

Die Angst einladen

Interview mit Christian Meyer aus: „Sein“ Dez.2006

Ich habe keine Angst – das zumindest behaupten viele Menschen. Doch hinter der Fassade von Aktionismus und vermeintlicher Lebenstüchtigkeit lauert die Todesangst des Ichs, die Furcht, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, die Panik, dass der Boden unter den eigenen Füßen wegbricht, wenn wir das Steuer aus der Hand geben. Im Gespräch mit Jörg Engelsing schildert Christian Meyer den Umgang mit Angst und anderen schwierigen Gefühlen.

Sein: Warum ist eigentlich die Angst so ein zentraler Aspekt des menschlichen Daseins?

C: Weil der Körper das Programm hat: „Ich will überleben.“ Dieses Programm bindet ihn an die Konditionierung. Es lässt ihn angenehme Situationen aufsuchen und unangenehme meiden. Früher ist der Mensch vor dem Bären weggelaufen. Er brauchte dieses Programm, damit die Evolution voranschreiten konnte. Die Aufgabe, sich über das heutige Evolutionsniveau zu erheben, besteht jetzt darin, dass man dieser immanenten Todesangst ganz begegnet – ihr so völlig begegnet, als wenn man jetzt sterben würde. Und dann setzt man sich damit auseinander, ob man bereit ist dazu.

Sein: Bereit zu sterben?

C: Ja. Zu sterben, wenn es von einem gefordert wird. Nicht, weil man sterben will. Im Gegenteil. Weil man, obwohl man das Leben liebt, einverstanden ist zu sterben, wenn es so sein soll. Wenn man durch diese damit verbundene Angst völlig durchgeht, dann stirbt man den inneren Tod, den die Mystiker immer benennen. Dann gibt es auch ein Ende der Angst.

Sein: Ist die Angst dann tatsächlich beendet, oder muss man immer wieder durchgehen?

C: Mit diesem Durchgehen ist die Angst zu Ende. Es ist ein sehr radikales Durchgehen und bedeutet aufzuwachen.

Sein: Was verändert sich dann?

C: Durch das vollständige Aufwachen kommst du von der oberflächlichen Wahrnehmung der Welt und dessen, was du bist, zu einer tieferen Wahrnehmung, die unendlich ist, die keine Grenze hat. Und du selbst erfährst dich selbst als diese Unendlichkeit. Das ist begleitet davon, dass der Verstand still wird, und dass du in dieser Unendlichkeit einen unglaublich glückseligen Frieden erfährst. Es ist alles so still und gleichzeitig so friedvoll und eine solche Glückseligkeit. Es ist ein vollkommenes Erfülltsein. Diese Wahrnehmung ist vor dem Aufwachen nicht möglich, höchstens in kleinen Portionen und kurzen Erfahrungen. Um von der oberflächlichen Wahrnehmung, in der sich der normale Mensch bewegt, zu der tieferen zu gelangen, muss man offensichtlich durch ein Tor. Und dieses Tor hat mit dem Tod und der Bereitschaft zu sterben zu tun, mit dem vollkommenen Loslassen.

Sein: Wenn man da durchgegangen ist, ist dann nicht einfach nur diese psychologische Angst gestorben? Kann der Körper nicht trotzdem noch Angst empfinden, beispielsweise wenn man auf einem Brückengeländer balanciert?

C: Ja. Das ist was anderes. Solche Ängste kann der Körper haben, wenn der Tiger im Zoo ausgebrochen ist, oder er kann auch Höhenängste haben. Das sind Ängstlichkeiten. Aber auch diese konkreten Ängste können durch das Aufwachen wie weggewischt sein. Was sich auf jeden Fall radikal ändert: Es gibt keine Angst mehr vor dem Tod. Es gibt auch keine Angst mehr, die Kontrolle zu verlieren, weil du erkannt hast, dass es gar nichts zu kontrollieren gibt, dass du gar keine Kontrolle hast.

Sein: …sie nie gehabt hast.

C: Genau.

Sein: Viele Menschen behaupten, gar keine Angst vor dem Tod zu haben…

C: Das liegt daran, dass der Mensch von klein auf gewohnt ist, die mentale Vorstellung vom Tod abzuspalten von den inneren Gefühlen der Bodenlosigkeit, der Leere und des Ausgelöschtseins. Wenn derjenige dann wieder nach innen geht und anfängt, seine innere Tiefe zu erforschen, dann wird es schnell unheimlich, dann bemerkt er diese Bodenlosigkeit, diesen Abgrund, dieses schwarze Loch. Und dann merkt er, dass da Angst ist. Existenzielle Angst, die nicht mit Gedanken zusammenhängt, sondern mit dieser Bodenlosigkeit. Um diese Angst geht es. Und dieser Angst begegnet jeder, sobald er sich tiefer auf sich einlässt.

Sein: Welche Möglichkeiten gibt es, sich dieser Angst zu stellen? Man kann ja nicht einfach zu Hause sagen: „Jetzt will ich sterben.“, denn das ist ja der Punkt, dem wir am stärksten ausweichen.

C: Das Entscheidende ist, sich mit zwei Fragen auseinander zu setzen: Bin ich wirklich bereit, die Angst zu fühlen, selbst wenn ich Angst habe, dass sie mich überwältigt. Und: Warum will ich mich ihr überhaupt stellen? Wenn wir bereit sind, die Angst – und alle anderen Gefühle auch – zu fühlen, egal, was dabei auf uns zukommt, dann ist das so etwas, wie die Angst einladen. Diese Bereitschaft, die Angst und die anderen Gefühle zu fühlen, entsteht aus dem Wunsch, heraus zu finden, was darunter ist, dem Wunsch, die Wahrheit zu entdecken, die tiefer ist. Wenn man mit dieser nüchternen Intention darauf zugeht, dann hat man gewissermaßen das Bedürfnis hinter sich gelassen, dass es einem gut gehen soll.

Sein: Kann man das allein schaffen?

C: Nein. Man braucht Unterstützung. Es ist ein Prozess, der Angst – und auch allen anderen Gefühlen – zu begegnen. Es ist ein Prozess, in dem ich, wie beim Segeln, zuerst das Segeln bei schönem Wetter übe. Dann traue ich mich aufs Wasser, wenn mehr Wind aufkommt. Mit zunehmender Übung und Routine bin ich dann auch bereit, dem Sturm zu begegnen. In Bezug auf die Gefühle bedeutet das – und das ist einer der wichtigsten spirituellen Entdeckungen, die überhaupt je gemacht wurden – dass es darauf ankommt, sich in das Gefühl hinein sinken zu lassen und alle Impulse, zurück zu den Gedanken zu gehen, in die Geschichte, in Vorstellungen, in Fantasien oder ins Ausagieren, alle diese Impulse nicht zu beachten. Es geht wirklich darum, ganz und gar in dem Gefühl zu bleiben. Das ist etwas anderes, als es in den traditionellen Meditationen oder Therapieformen gelehrt wird. In der traditionellen Meditation lernt der Meditierende, nur der Beobachter zu sein, und sich nicht mehr wirklich von dem Gefühl erfassen zu lassen. In der westlichen Therapie lernt der Mensch, die Gefühle zu bearbeiten und die Gefühle auszudrücken, die Gefühle zu erklären oder in der Körperarbeit, in der Gestaltarbeit, in die körperliche Bewegung umzusetzen. Und hier gibt es etwas, was dazwischen steht. Was weder eine Dissoziierung durch das nur Beobachten ist, noch ein Ausagieren und die Energie in die Bewegung und in das Tun umsetzen. Wenn wir in dem Gefühl bleiben und den Impulsen nicht folgen, verbrennt das Gefühl und bringt einen automatisch tiefer und tiefer, zu einem tieferen Gefühl, oder zu dem Frieden und der Stille, die unter dem Gefühl liegen. Das ist der Weg. Und dabei gibt es Unterstützung durch die Gemeinschaft, durch die anderen Menschen, die auch auf dem Weg sind, durch den Lehrer, der mit dir arbeitet und durch konkrete Übungen. Mit der Zeit erlangen wir die Fähigkeit, im Gefühl zu bleiben, ohne den Impulsen zu folgen – während der Arbeit, während des Kontaktes mit den Kindern, in der Beziehung, auf dem Spaziergang, wo auch immer. Und mit dieser Fähigkeit können wir der größten Angst begegnen, wie auch immer sie kommt.

Sein: Sind Menschen mit Panikattacken oder Psychosen näher an dieser Angst?

C: Ja, aber sie nehmen diesen Angst als so überwältigend wahr, dass sie sich von ihr abspalten und in den Kopf gehen. Und dort folgen sie dann ihren Fantasien und Gedanken.

Sein: Wie lange brauchen die Menschen im Durchschnitt, um sich wirklich auf diese Gefühle einzulassen, und nicht mehr davor weg zu laufen?

C: Das ist völlig unterschiedlich. Manche haben länger damit zu kämpfen, andere scheinen, aus welchen Gründen auch immer, sehr schnell den Weg zu erfassen und in sich umzusetzen. Die Entwicklung verläuft nicht so wie ein sanfter Berg, den man aufsteigt und Stück für Stück nach oben geht, sondern da sind eher Stufen. Es gibt Rückschläge oder Zeiten, wo sich jemand länger wie auf einem Plateau fühlt und gar kein Fortkommen zu sein scheint, und dann findet plötzlich eine starke Veränderung statt.

Sein: Viele Menschen sind schon seit 10, 20 oder 30 Jahren auf dem Weg und der entscheidende Durchbruch geschieht nicht. Warum?

C: Auf vielen spirituellen Wegen findet viel zu viel Dissoziation statt. Viel zu viel geschieht im Mentalen und viel zu wenig Klarheit besteht darüber, was eigentlich mit den Gefühlen los ist. In spirituellen Kreisen gibt es oft die Idee: Wenn man das Gefühl ganz fühlt, sei das die Identifizierung mit dem Gefühl. Das ist ganz großer Unsinn. Fühle ich das ganze Gefühl so sehr, dass ich zu dem Gefühl werde, dann gebe ich mich dem Gefühl hin. Nur wenn ich mich diesem Gefühl total aussetze, egal, was es mit mir macht, bedeutet das ein wirkliches Annehmen dessen, was ist. Eine Identifizierung mit dem Gefühl geschieht erst da, wo ich mit dem Gefühl etwas mache. Wo also eine Freude da ist und ich beispielsweise darüber nachdenke, wie ich diese Freude morgen auch noch haben kann. Oder dass ich diese Freude schnell meinem besten Freund mitteilen muss. Oder dass ich plötzlich Angst habe, vor Freude zu explodieren und dann etwas tue, um sie einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Dieses Tun, dieses nach dem Gefühl greifen und etwas damit machen, das ist das Identifizieren. Das Ich will das gute Gefühl fördern und beibehalten und das unangenehme Gefühl unter Kontrolle haben und weg schieben. Etwas mit dem Gefühl tun, das ist die Identifikation. Das Gefühl einfach aufwallen zu lassen und in sich zu erfahren und geschehen zu lassen, das ist keine Identifikation.

Sein: Das ist aber unglaublich schwierig, weil die Gedanken sich schnell einschalten, um dieses Gefühl irgendwie einzuordnen und zu bewerten.

C: Ja, aber du lernst es mit der Zeit, und dann ändern sich auch die Gedanken. Dann kommt der Gedanke: „Ah, was mag das für ein Gefühl sein, was sich da zeigt?“ Oder:“ Moment, jetzt achte mal darauf, dass der Körper losgelassen ist und dass vielleicht der Atem anders fließen will. Öffne doch mal den Mund.“ Oder: „Wie entwickelt sich dieses Gefühl in mir? Ist es eine Trauer oder eine Wehmut oder ist da vielleicht noch ein anderes Gefühl? Ich will dem Raum geben und erforschen und erkunden, was da ist.“ Das sind Gedanken, die dann dieses Gefühl begleiten. Das ist gewissermaßen die innere Begegnung mit dem Gefühl. Und wenn dem Menschen dann mehr und mehr das Aufwachen und die Wahrheit wichtig ist, dann fängt er an, sich auf diese Weise dem Gefühl zu nähern. Gedanken wie: „Wo kommt es her? Warum habe ich das bloß? Und wieso schon wieder? Und warum geht es mir nicht besser? Und ich wollte das doch gar nicht.“ sind dann einfach nicht mehr da.
Das heißt gleichzeitig, dass dieses Gefühl gefühlt wird innerhalb eines Raumes von Frieden, weil man nicht mehr ankämpft gegen das Gefühl, weil das Gefühl da sein darf, egal ob es im Augenblick angenehm ist oder unangenehm. Ich tue nichts mit dem Gefühl, ich transformiere nicht, ich beobachte auch nicht. Natürlich, das Bewusstsein ist im Hintergrund da und nimmt gleichzeitig wahr, was geschieht. Aber ich tue nichts, ich tue einfach nichts. Ich setze mich dem aus und dann geschieht etwas, was man das Verbrennen des Gefühls nennen kann.

Sein: Wenn ich diese Angst fühle, ist dann der Erwachsene, als der ich wahrnehme, noch da oder verschwindet der auch noch?

C: Der Erwachsene ist derjenige, der wahrnimmt, dass dieses Gefühl jetzt ganz gefühlt wird. Aber das Ich ist nicht mehr da. Das Ich besteht aus den Gedanken: „ich will“ und „ich will nicht“, „ich muss“, „ich sollte“ und „ich kann nicht“. Das sind die Gedanken, die das Ich konstituieren. Und das sind die Gedanken, die normalerweise gegenüber einem Gefühl auftauchen. „Dieses Gefühl kann ich nicht bewältigen. Dieses Gefühl mag ich heute nicht haben. Von dem Gefühl will ich mehr“, das sind die Gedanken, die das Ich sich macht. Wenn ich mich aber dem Gefühl aussetze ohne zu fragen: „Fühle ich mich jetzt gut dabei? Wie lang wird das dauern? Was wird es mit mir machen?“, dann stirbt tatsächlich in diesem Augenblick das Ich, es ist beendet, weil mit dem Gefühl nichts gemacht wird. Je häufiger auf diese Weise mit den Gefühlen umgegangen wird, desto schneller blättern die Schichten des Ichs von uns ab. Diese Haltung den Gefühlen gegenüber ist ein 24-Stunden-Job und nichts, und schon gar nichts in erster Linie, was nur im Meditationssitz geschieht.

Sein: Kann ich mir wirklich bewusst sein, was ich fühle, während ich arbeite?

C: Wenn nicht so viel plappernde Gedanken im Kopf sind, existiert genug Raum dafür.

Sein: Aber ich muss mich doch manchmal sehr stark konzentrieren.

C: Richtig, während der Arbeit am Computer wird das Gefühl in den Hintergrund treten, es wird eine Ruhe da sein, eine konzentrierte Ruhe. Aber wenn zum Beispiel eine Unzufriedenheit mit dem Gang der Arbeit auftaucht, wenn ich nicht weiter komme, dann bin ich sofort bereit, das zu fühlen, was da ist, statt nur im Kopf zu bleiben und zu machen und zu machen. Es gibt fast immer Gefühle. Und unter den Gefühlen gibt es Erfahrungen, die tiefer sind als Gefühle. Das sind Erfahrungen von Stille, von Ruhe, von Frieden, von Leere, von Weite und auch von Liebe. Diese Erfahrungen verhalten sich anders als Gefühle, weil sie nicht kommen und gehen, sondern da sind. Die bleiben. In denen kann man ruhen. Gefühle wallen auf und wühlen dich auf – und dann verbrennen sie wieder. Das ist, was Gefühle machen. Die Erfahrungen, die tiefer sind, in denen schwimmst du eher, schwebst du, badest du, oder bist du selbst.

Sein: Wie sieht es bei dir selbst aus – hast du noch viel Gefühle, oder sind da eher diese ruhenden Erfahrungen?

C: Beides, weil das aufgewachte Sein ja nicht damit zu tun hat, dass die Gefühle abnehmen sollen. Der normale Mensch lebt immer in einem Zwiespalt. Er will die Gefühle nicht, ist immer in den Gedanken, und dadurch halten die Gefühle lang an, weil sie durch die Gedanken und die Geschichte immer wieder aufgekocht werden. Er fühlt sie nie ganz und dadurch ziehen sie sich lange hin.
Im erwachten Sein sind die Gefühle intensiver, aber kürzer. Sie wallen wirklich auf und sind ganz da. Doch da ist niemand mehr, der sie mit Gedanken unter Kontrolle hält und weg haben will oder verändern will. Statt dessen sind sie ganz da und dann verbrennen sie. Was bleibt, ist die Stille, in der das Gefühl auftaucht und wieder verbrennt. Bestimmte Gefühle gibt es nicht mehr, aber Gefühle an sich sind da, natürlich. Wir wollen ja nicht ein lebloses Individuum haben, das sich nicht mehr bewegen lässt von dem, was in der Welt geschieht, anrühren lässt, von dem was ist, oder das nicht mehr mit Gefühlen auf andere Menschen reagieren würde.

Sein: Es ist eben nur keiner mehr da, der das kontrolliert.

C: Keiner, der sie kontrolliert, der etwas damit machen will, der tut. Das ist der Unterschied.

Sein: Vorhin hast du gesagt, dass letztendlich vieles, was im spirituellen Bereich gelehrt wird, auf der mentalen Ebene bleibt. Kannst Du dazu noch etwas sagen?

C: Ja. Im Buddhismus ist das sehr verbreitet. Einerseits all die Meditationen, die in Form von Visualisierungen stattfinden, alle Meditationen, die sich auf Mantras oder Worte und Bilder beziehen. All das bewegt nur den mentalen Bereich und es besteht die Gefahr, dass die Menschen künstlicher werden und getrennter von den Gefühlen, als sie es vorher waren. Dann können sie zwar innerlich einen stillen Raum aufsuchen, aber diese Stille ist nicht wirklich etwas wert. Es ist tatsächlich eher so ein Entspanntsein, wie es beim autogenen Training möglich ist. Aber das hat wenig oder nichts zu tun mit der überwältigenden Stille, die du nicht aufsuchen kannst, die dich nur erfassen kann. Auf vielen spirituellen Wegen ist statt dessen ein Dissoziieren anzutreffen. Denn wenn ich mich auf die Körperempfindungen konzentriere, wenn ich meinen Atem beobachte und dadurch zur Ruhe kommen will, dann bedeutet das ja definitiv, dass ich die Gefühle beiseite gestellt habe. Ich komme dann zur Ruhe, indem ich mich auf etwas anderes konzentriere.

Sein: Konzentration ist also letztendlich der Sache nicht dienlich.

C: Ja. Zwar ist das sich Hinwenden auf das Gefühl auch eine Art von Konzentration, aber doch nicht wirklich auf etwas, sondern eher ein sich Hineinbegeben in das, was auftaucht.

Sein: Was sowieso da ist.

C: Ja. Es gibt viele Menschen, die konzentrieren sich stundenlang am Tag auf Kreuzworträtsel. Die füllen ganze Bände von Kreuzworträtseln aus. Das ist auch eine Art von Konzentration, mit der ich mich von allem anderen dissoziiere und dann natürlich entspannter fühle, als wenn ich mich den ganzen Gefühlen aussetze, die wegen der Arbeit, der Beziehung, dem Tieferen, der inneren Bodenlosigkeit auftauchen.

Sein: Was du lehrst, ist ja eigentlich eine gute Nachricht. Es fällt viel spirituelles Drumherum weg, was man alles machen muss, um zu erwachen. Die Frage ist nur: Wie kommt man an diese Gefühle heran, schließlich leben die meisten Menschen mit einem harten Panzer drumherum.

C: Da haben wir heute wirkliches Glück, weil wir nicht nur die spirituellen Wege haben, sondern auch all die Techniken, welche die therapeutischen Methoden uns zur Verfügung gestellt haben. Viele von diesen Techniken aus der Körper-, Trance- und Gestaltarbeit und vielen anderen Richtungen sind für den spirituellen Weg nutzbar. Es gibt allerdings auch viele therapeutische Methoden, die dem spirituellen Weg entgegenlaufen. Hier muss man das eine vom anderen trennen. Manches in der Therapie stärkt die Identität, die Geschichte, das „Wer bin ich?“ und „Wie soll ich mich für mich einsetzen und durchsetzen?“. Die Identifikation mit der Geschichte von gestern und der vor zwanzig Jahren stärkt diese ganze Identität und das Ich und das steht natürlich dem Aufwachen im Wege. Aber es ist völlig falsch, das Thema Therapie als Ganzes weg zu kippen, weil viele Richtungen helfen, in die eigene Mitte zu finden, seinen Gefühlen näher zu kommen, die Anspannung loszulassen usw.

Sein: Stärkt nicht auch die „Wer bin ich?“ Frage von Ramana Maharshi diesen mentalen Bereich?

C: Ramana selbst hat bei dieser Frage, die ja im indischen Raum vorher auch schon als eine Technik angewendet wurde, immer darauf hingewiesen, dass man sie nicht intellektuell zu beantworten hat. Vielmehr geht es darum, dass man die Erfahrung als Antwort auf diese Frage zu erforschen hat. Aber tatsächlich wird diese Frage „Wer bin ich?“ auch von den Suchenden oft zu mental benutzt. Wenn sie die Frage stellen: „Wer ist das, der da fühlt?“, und dann in einen Gefühlsaufruhr kommen, geschieht es oft, dass sie sich von dem Gefühl dissoziieren. Insofern kommen wir nur weiter, wenn wir dieser Frage „Wer bin ich?“ zwei andere Fragen zur Seite stellen. Das eine ist die Frage: „Was erfahre ich jetzt?“ und die zweite Frage ist: „Was will ich?“ Wenn man die drei Fragen als zusammengehörig versteht, dann ist das sozusagen wirklich der Kompass, der zur inneren und tiefen Wahrheit führt.

Sein: Wieso die Frage: „Was will ich“ ?

C: Die Frage: „Was will ich?“ ist ständig relevant. Zum Beispiel, wenn ein Gefühl auftaucht. Dann kommt: „Was will ich jetzt? Will ich mich gut fühlen? Will ich das Gefühl fühlen, damit es schnell vorbei ist? Will ich nur lebendig sein und bin deswegen bereit, auch das unangenehme Gefühl in Kauf zu nehmen?“ Da ist es schon ein wesentlicher Schritt zu merken, dass es wichtiger ist, lebendig zu sein, als sich nur gut zu fühlen. Eine weitere wichtige Frage heißt: „Will ich aufwachen?“ Viele sagen: „Ja, wenn ich das will, dann habe ich schon wieder einen Wunsch, und das steht dem Aufwachen im Wege.“ Das ist zu kurz gedacht. Denn: Um die inneren Blockierungen und die Schwierigkeiten auf dem Weg zu den Gefühlen und der inneren Erfahrung und dem, was in dem Abgrund lauert, wirklich zu begegnen, braucht es einen starken Wunsch, der mich auch „im Sturm“ nicht weglaufen lässt. Deswegen ist es gut, dass dieser Wunsch sehr, sehr stark ist. Aber es gibt eine zweite Frage, die beantwortet werden muss: „Weshalb will ich aufwachen?“.

Sein: Das ist doch eigentlich immer ein Egowunsch?

C: Nicht immer. Das ist eben der Punkt. Solange es ein Egowunsch ist, funktioniert das Aufwachen nicht. Solange man aufwachen will, damit es einem besser geht, aufwachen will um berühmt zu werden oder mehr Erfolg bei den Frauen zu haben, wird es nicht funktionieren. Wenn man jedoch aufwachen will aus dem Wunsch heraus, mit der Wahrheit überein zu stimmen, die Wahrheit zu erkennen, der Wahrheit Raum zu geben statt sich selbst, dann führt diese Sehnsucht und dieses Verlangen, aufzuwachen, zum Ziel. Das ist dann wirklich ein starker, aber ein ganz unpersönlicher Wunsch. Wenn ich zu dem Ergebnis komme, dass es mir das Wichtigste ist, die Wahrheit zu finden, zu entdecken, selbst wenn darauf „der Scheiterhaufen droht“, dann trägt das.

Sein: Das ist ein guter Gedanke. Bei mir ist es beispielsweise so, dass es meine tiefste Sehnsucht ist, bedingungslos zu lieben. Ich sehe aber, dass es auch einen anderen Teil in mir gibt, der will überhaupt nicht bedingungslos lieben. Der will sich aussuchen, was und wen er liebt. Und diese beiden Wünsche konkurrieren sehr stark.

C: Jetzt scheint es so zu sein, dass diese Frage zum ersten Mal in der Klarheit auftaucht. Also lass dir ein bisschen Zeit, sie zu erforschen, „Will ich wirklich nur, dass es mir durch das Aufwachen besser geht? Was würde es eigentlich mit mir machen, wenn ich mich innerlich dem Aufwachen völlig zuwende und dabei gleichzeitig anfange, nicht mehr wichtig zu nehmen, was für mich dabei herauskommt.“

Sein: Das ist schon haarig, diese Frage.

C: Ja, es ist haarig, aber ich glaube nur im ersten Schritt. Im zweiten Schritt schon ahnt man, dass darin eine große Freiheit liegt: Aufhören zu wollen und nicht mehr daran gebunden zu sein, ob es mir dabei jetzt gut geht oder nicht. Ich meine, das Aufwachen hat das Ergebnis, dass einem egal ist, was mit einem wird. Die Freiheit, die das erzeugt, ist so viel größer, ist so viel mehr wert und so viel befriedigender, als: „Geht es mir jetzt gut? Geht es mir jetzt gut genug? Geht es mir morgen besser? „

Sein: Ja, ich weiß. Ich kenne solche Situationen, wo ich einfach sehe: „Meinem Körper geht es schlecht, aber es ist okay“.

C: Ja.

Sein: Letztendlich: Dem Körper kann es immer gut oder schlecht gehen, das ist jenseits meiner Kontrolle.

C: Genau. Und er wird älter und wahrscheinlich kränker, wahrscheinlich wird es ihm nie mehr so gut gehen, wie zu der Zeit, als er zwanzig war.

Sein: Ja, es ist ein wunderbares Gefühl, diese Entspannung, egal, wie es mir geht.

C: Eben. Und diese Entspannung…

Sein: …das ist die einzige Freiheit, die es wirklich geben kann.

C: Genau. Und diese Entspannung ist ja nur der erste Schritt. Die Folge davon ist ein inneres, vollständiges Erfülltsein. Wenn dieses Erfülltsein erst einmal erfahren wird, dann findet man es nicht mehr wichtig, ob überhaupt noch etwas dazu kommt. Also du siehst, es ist sinnvoll, wenn man sich bewusst wird: „Wo habe ich persönliche Wünsche?“ und dann weiter fragt: „Warum habe ich sie?“. Darum ist zum Beispiel die Frage „Was will ich?“ und „Was will ich wirklich?“, viel wichtiger, als jeden Tag eine Stunde im Schneidersitz auf dem Meditationskissen zu sitzen. „Was will ich? Was sind das für Wünsche, die im Untergrund sind? Was sind das für Wünsche, die mir bewusst sind?“, das gilt es zu erforschen. „Was will ich mit dem Leben? Will ich aufwachen? Weswegen?“

Sein: Ich sehe, dass ich da noch jede Menge andere Wünsche habe wie: Ich will meinen Job gut erfüllen, ich will helfen usw..

C: Genau. Und die Haltung, die weiterhilft, ist offen und neugierig zu sein: „Was wird da wohl auf mich zukommen – von innen und von außen?“

Sein: Offen und neugierig, weil ich das, was da auf mich zukommt, sowieso nicht steuern oder kontrollieren kann.

C: Ich kann es nicht kontrollieren und vor allem bin ich niemals derjenige, der weiß, was hinterher dabei heraus kommt.

Sein: Stimmt. Trotzdem ist es schwierig, weil viele Erkenntnisse auf der mentalen Ebene hängen bleiben. Ich kann beispielsweise zwar erkennen, dass alles von selbst abläuft, dass ich es nicht kontrollieren kann, aber es nützt mir bisher nichts.

C: Aber es fängt an, dir was zu nützen, wenn du mit dieser inneren Haltung dem konkreten Gefühl im Augenblick begegnest.

Sein: Indem ich sage: „Ich kann es sowieso nicht ändern?“

C: Ich kann es nicht ändern, ich will es nicht ändern, es darf hochkommen. Ich weiß nicht, was daraus erwächst. Ich öffne mich dem, was geschieht. Ich bin derjenige, der ein bisschen neugierig, aber ganz und gar offen ist und sich dem aussetzt, was da geschieht. Bei jedem konkreten Gefühl kannst du diese Haltung entwickeln, kannst die Konsequenzen dieser Haltung erfahren, so dass diese Haltung etwas ganz anderes wird, als nur eine mentale Vorstellung. Einfach dadurch, dass du dem Gefühl jeweils auf diese Weise begegnest, wird es für dich immer mehr zu einer realen inneren bedeutungsvollen Wahrheit.

Sein: Und macht auch mehr Spaß.

C: Ja.

Sein: Weil die normale Haltung, Unangenehmes abzuwehren, das Leben ausbremst und einengt.

C: Richtig. Lebendig sein und Aufwachen hängen miteinander zusammen.

Sein: Aber es gibt viele spirituelle Schulen, die dieses Lebendigsein, im Fühlen sein überhaupt nicht erwähnen.

C: Richtig. Und dann gibt es auf der anderen Seite spirituelle Richtungen, die sagen: „Wenn ich nur lebendig genug bin und alles lebe, was da gerade hochkommt, dann wird das reichen“. Das ist auch nicht richtig. Richtig ist es, alles zu fühlen und immer stiller zu werden gegenüber den Impulsen. Aber die meisten spirituellen Wege sind eher die, die das überhaupt nicht erwähnen, die überhaupt keinen Zugang und Umgang damit haben. Da gibt es spirituelle Lehrer, die sagen: „Wenn solche Gefühle hoch kommen, dann muss jemand vielleicht mal eine Zeit lang in Therapie gehen.“ Aber dass die Gefühle selbst der Weg der spirituellen Transformation sind, das ist tatsächlich nahezu unverstanden.

Sein: Und die andere Richtung sagt, du sollst sie völlig ausleben.

C: Genau.

Sein: Aber das unterscheidet sich zu deinem Ansatz, bei dem es darum geht, letztendlich ein Gefäß für diese Gefühle zu sein.

C: Richtig. Letztendlich geht es darum, völlig unabhängig gegenüber den Gefühlen zu werden. Innerlich ganz souverän dadurch zu werden, dass ich mit den Gefühlen nichts machen muss, aber wenn ich es denn will, etwas machen kann. Man ist nicht gezwungen, das Gefühl nur innerlich zu fühlen und nicht zu handeln, aber man ist dann frei, zu wählen. „Will ich etwas tun oder will ich nichts tun? Verursacht es Leid, wenn ich etwas tue?“
Was ich noch untergebracht wissen möchte, ist die Entdeckung, dass es wirklich lohnt, sich auf den Weg zum Aufwachen zu begeben; dass immer mehr Menschen tatsächlich aufwachen. Dass der Weg tatsächlich immer häufiger erfolgreich ist. Das ist eine Veränderung zu der Zeit vor zwanzig Jahren, wo man weit mit dem Flugzeug fliegen musste, um einen aufgewachten Menschen überhaupt nur aus der Ferne sehen zu können. Jetzt trifft man sie in der Stadt, sieht sie auf Video, man kann mit ihnen reden. Das ist wirklich beeindruckend. Faszinierend.

Sein: Es gibt ja mittlerweile eine ganze Menge Satsang-Lehrer. Und dann gibt es eben auch große „Gurus“ wie Ramana oder Poonjajii. Gibt es da einen Unterschied in der Präsenz, Kraft und Klarheit?

C: Ja, absolut. Die wesentliche Unterschied ist der: Man kann heute aufwachen und die Unendlichkeit erfahren, manchmal durch ein plötzliches inneres Gewahrsein, ohne durch diesen inneren Abgrund und das schwarze Loch gegangen zu sein. Ohne sich mit der Bereitschaft, zu sterben auseinander gesetzt zu haben, ohne durch diese Schicht des Todes und der Leere und auch der Angst vor der Leere und dem Ausgelöschtsein gegangen zu sein. Dann ist das aufgewachte Dasein nicht von Dauer und auch nicht tief genug. Wenn das Aufwachen durch so ein plötzliches Gewahrsein geschieht, dann muss es sich sowieso danach vertiefen. Die Tiefe das Aufwachens hängt auch davon ab, ob jemand nach dem Aufwachen bereit ist, sich der weiteren Tiefe der Wahrheit zu öffnen und sich immer tiefer auf die Wahrheit einzulassen. Und speziell, entweder vor oder sonst nach dem Aufwachen, sich diesem inneren Abgrund, diesem inneren schwarzen Loch und dem Tod zu stellen. Oft wird da, auch wieder durch mentale Konzepte wie: „Der Tod ist nichts Wirkliches, also brauche ich keine Angst davor zu haben“, Angst abgewehrt und nicht wahrgenommen. Damit spielt man sich einen Streich.

Sein: Weil letztlich die Angst eben nichts Mentales ist, sondern etwas, was tief in unseren Zellen sitzt.

C: Genau. Wo man erst, wenn man sie beendet hat, weiß: „Oh, sie ist nicht wirklich.“ Klar, auch die Angst im Albtraum ist nicht wirklich, aber das schweißgebadete Aufwachen und die Erfahrung der Angst sind es. Wenn ich dann sage: „Oh, sie ist nicht wirklich – ich brauche sie nicht zu fühlen“, dann spalte ich mich ab. Egal, ob sie wirklich ist – das Gefühl ist da. Dem muss ich begegnen. Und der Angst vor dem Tod natürlich umso mehr.

Sein: Das kann ich bestätigen. Aussagen wie: „Ist alles nur ein Film“ nützen nichts.

C: Überhaupt nichts. Diese Konzepte spalten von der inneren Erfahrung, dem inneren Fühlen und der inneren Wirklichkeit ab und verarmen den Menschen, weil er an Lebendigkeit einbüßt.

Sein: Es könnte höchstens so etwas passieren wie eine L-m-A-Haltung.

C: Und die hilft niemandem.

Sein: Wie sieht es mit Wut aus? Sie ist ja eigentlich ein Projektionsgefühl.

C: Wut spielt eine ganz zentrale Rolle auf dem Weg. Der Gestalttherapeut Fritz Perls hat 1950 gesagt, es habe zwei Tabus gegeben: die Sexualität und die Aggressivität. Freud habe das erste Tabu enttabuisiert und jetzt käme es darauf an, die Wut zu enttabuisieren und nicht nur ihre destruktive Seite, sondern auch ihre positive Seite zu sehen. Für fast alle Therapeuten, vor allem der humanistischen Therapierichtungen, ist Wut in der Regel das Zentrum der Arbeit. Aber das greift zu kurz. Aus folgendem Grunde: Jede Wut hat eine Grundlage, und die Grundlage ist die Verletzung und der Schmerz. Wenn jetzt das Erleben der Wut dazu benutzt wird, den Schmerz nicht zu fühlen, die Verletzung nicht zu fühlen, und sich in der Lebendigkeit der Wut wohl zu fühlen, dann wird der Weg zu wirklicher Heilung versperrt und vor allem der Weg zur spirituellen Veränderung. Worauf es ankommt, ist die Wut ganz zu fühlen, also wieder auf gar keinen Fall zu unterdrücken, aber sie nicht zwanghaft auszuagieren, sondern die ganze Energie in sich toben, in sich aufwallen zu lassen und dadurch innerlich immer weicher zu werden – sich dann dem ganzen Schmerz der Verletzung zuzuwenden und ihn zu fühlen.

Sein: …einfach zu fühlen, was hochkommt und nichts damit zu machen.

C: Ja, genau. Früher war es die Methode der Wahl, bei Wut mit den Händen oder sogar mit dem Tennisschläger auf ein Kissen zu schlagen und über diesen Ausdruck zu einer körperlichen Lösung zu kommen. Man kann aber entdecken, dass mehr geschieht, wenn ich körperlich die ganze Wut fühle und nicht zum Ausdruck bringe. Allerdings setzt das voraus, dass der Körper nicht mehr blockiert ist. Um die Blockierung zu lösen, ist auch der Ausdruck der Wut als Hilfsmittel wertvoll. Aber der Königsweg ist, die ganze Wut im Körper zu fühlen und in sich verbrennen zu lassen.

Sein: So dass die Energie letztendlich nach innen durchbricht.

C: Genau. Es geht darum, bei jeder Wut offen dafür zu sein, auch den Schmerz zu fühlen, der unter der Wut ist. Denn es ist ja ganz klar, dass Wut nicht wirklich die Lösung hervorruft, weil Wut immer noch die Haltung ist: „Ich hätte gerne“ oder sogar „Ich bestehe darauf, dass es anders ist, als es ist.“

Sein: …das Du sollte sich anders verhalten.

C: Ja. Vor allem auch die Figuren in der Vergangenheit. Erst wenn der Schmerz gefühlt wird, komme ich zu der Haltung: „Ja, es durfte so sein, auch wenn es schlimm war“ oder „es darf so sein, auch wenn es schlimm ist.“. Schmerz ist das Gefühl, das wirklich löst. Die Wut löst nur scheinbar. Sie führt nur zu einem augenblicklichen sich lebendig Fühlen, aber nicht zu einer wirklichen Lösung des Themas.

Sein: Verabschiedet sich die Wut als Gefühl dann irgendwann?

C: Es ist nicht so, dass man nicht wütend sein darf. Aber man muss nicht mehr diese Energie nach draußen bringen. Das ist der Unterschied. Wenn es konkret darum geht, sich abzugrenzen, Verletzung zurückzuweisen, dann ist durchaus auch eine spontane Antwort in einer Situation gefragt. Die Arbeit mit den Gefühlen soll wirkliche Spontaneität ja fördern. Aber nicht die Impulsivität. Oft wird Impulsivität – „Ich tue das, was mir gerade mein Bauch sagt“ mit Spontaneität verwechselt.

Sein: Bist du noch verletzbar? Oder hat sich bei dir Verletzbarkeit in Berührbarkeit verwandelt.

C: Es gibt Schmerz, es gibt Trauer, Mitgefühl und das, was du schön mit dem Wort Berührbarkeit genannt hast, aber Verletzung in irgendeiner persönlichen Form, die gibt es nicht mehr.

Sein: Wenn ich jetzt beleidigend würde, und von Dir käme spontan Wut darüber auf, dann würde ich davon ausgehen, dass ich dich irgendwo erwischt habe, wo du verletzbar bist. Denn sonst müsstest du ja letztendlich meinen Angriff gar nicht zurückweisen.

C: Weißt du, vielleicht gibt es einfach Fragen, die nicht durch eine knappe definitive Antwort von ja oder nein beantwortet werden können. Es gibt ganz sicher Verletzung. Es wird ja Schmerz gefühlt, zum Beispiel sehr stark über die zunehmende Armut. Auch die Empörung über diesen ungeheuren gesellschaftlichen Reichtum, der viele Menschen ausschließt. Diese Empörung und der Schmerz sind gewaltig. Ist das nur Berührtheit, oder ist das auch ein Spüren der Verletzung, die dadurch geschieht? Ist die spontane, sagen wir jetzt mal energische, ungeduldige, wütende, zornige, ärgerliche Zurückweisung einer Verletzung ein Angriff ? Ich vermag das nicht zu sagen. Es ist zum Beispiel so, dass dann, wenn hier im Satsang vierzig Leute sitzen und einer die Stille stört, die Möglichkeit für die anderen behindert wird, tiefer zu gehen. Wenn ich dann zum Beispiel energisch oder auch mal wütend reagiere, dann bin ich persönlich weniger auf die Stille der Situation angewiesen, als die anderen Menschen. Das Wütendsein ist dann unpersönlich.

Sein: Vielleicht kommt es einfach auf die Ebene an, von der man die Welt betrachtet: Von der Ebene des Kronenchakras sozusagen oder des dritten Auges, da sehe ich: „Alles ist okay, wie es ist.“ Aber aus dem Herzen sehend fühle ich einfach den Schmerz, und da ist dann Mitgefühl da.

C: Vollkommen richtig. Wenn man die eigene Geschichte betrachtet oder die Geschichte von einem Menschen, der aufgewacht ist und als Kind misshandelt wurde, können wir dann nicht im Nachhinein sagen: „Es hat ihm zum Aufwachen geholfen“, und im Nachhinein war es daher gut? Aber wenn wir erleben, wie ein Kind misshandelt wird, dann reagieren wir nicht mit diesem Konzept: „Alles ist gut“, sondern mit der Berührtheit, mit dem Mitgefühl, mit der Empörung und sind gerufen, einzugreifen.

Sein: Es heißt eben nicht, über den Dingen stehen.

C: Nein. Es ist eher ein: „Ich nehme – beispielsweise – den Krieg und die Armut an, aber ich nehme gleichzeitig auch den Schmerz und die Empörung darüber an. Ich bin gelassen und gleichmütig gegenüber dem Schmerz. Ich bin nicht sauer darüber, dass ich dieses Mitgefühl haben muss, sondern ich akzeptiere diesen Schmerz.“ Das ist echter Gleichmut. Der ist natürlich auch getragen von dem letztendlichen Nichtwissen, warum etwas ist und wofür es ist und wie es ist.

Sein: Immer wieder läuft es aufs Gleiche hinaus: Annehmen, was ist…

C: Die Menschen tun so viel, um den Schmerz und die Angst abzuwehren. Das Missverständnis besteht darin, dass sie glauben, dass der Schmerz und die Angst das Leben schlimm machen. Aber es ist umgekehrt. Das Wegschieben und das Weglaufen von der Angst und dem Schmerz ruft den Albtraum erst hervor. Wenn ich bereit bin, den ganzen Schmerz anzunehmen und auch die ganze Angst, solange sie da ist, dann hört der Albtraum auf, und zwar noch bevor der Schmerz und die Angst aufgehört haben.

Sein: Kann die Liebe nicht erst dann kommen, wenn die Angst beendet ist?

C: Nein, die kommt schon vorher. Natürlich ist es leicht, liebevoll zu handeln, wenn keine Angst mehr da ist. Doch gerade dann, wenn du bereit ist, trotz der Angst das Richtige zu tun, dann ist das von Liebe getragen. Und dann zeigt die Liebe vielleicht sogar ihre größere Schönheit.

Der Prozess des Aufwachens

Der Prozess des Aufwachens

Interview Juli 2003 mit Christian Meyer
Interviewerin: Karin Mager

F: : Christian, du richtest ja immer wieder den Focus darauf, dass es darum geht, aufzuwachen. Was meinst du damit?

C: Aufwachen ist eine andere Art des Seins. Wenn das Aufwachen stattfindet, dann gibt es so etwas wie eine Gewissheit, wie ein Erkennen, dass das Leben vor dem Aufwachen nur eine Imitation des Lebens war. Dass vorher ein Schlaf war, ein Schlafwandeln gewissermaßen.

F: Aus dem Schlaf aufwachen, ist sicher noch nicht klar genug. Wie würdest du es Leuten, die sich mit spirituellen Themen nicht befasst haben, aber vielleicht offen dafür sind – die du gewissermaßen für diesen Gedanken „Aufwachen“ gewinnen willst – wie würdest du es ihnen erklären?

C: Ich glaube, es ist fast besser, wenn du nur von dir ausgehst. Wahrscheinlich werde ich 99,5 % der Menschen nichts davon erklären können. Meister Eckhart sagt: „Sei nicht besorgt, wenn du mein Reden nicht verstehst. Solange du nicht über die Erfahrung verfügst, wirst du davon nichts verstehen“.

F: Ja, das stimmt, das ist vielleicht eine ganz gute Idee, jetzt einfach von meinem Verständnis her zu fragen.
Aufwachen, hast du gesagt, ist eine andere Art von Sein. Und Aufwachen beinhaltet, dass ich die Welt wahrscheinlich auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrnehme, oder? Kann man das so sagen?

C: Ja.

F: Was wäre denn wirklich anders in meinem Leben, wenn ich jetzt aufgewacht wäre? Ich meine, was passiert, wenn ich aufwache? Vielleicht kannst du es anhand deiner eigenen Erfahrung beschreiben.

C: Was passiert, wenn du aufwachst ist, dass der Verstand anhält. Wenn der Verstand anhält, dann tritt innerlich eine Ruhe und ein Frieden ein, der vorher nicht gekannt wurde.

F: Also, das Plappern in meinem Denken hört auf.

C: Ja, das Plappern in deinem Denken hört auf. Der Verstand wird nur benutzt, wenn es nötig ist und die erlebte Stille des Verstandes hat zur Folge, dass der Frieden gefühlt und erfahren wird, der die ganze Zeit vorher auch schon da war. Neben der Erfahrung dieses Friedens und dieser inneren Stille, gibt es die Erfahrung von Zeitlosigkeit und die Erfahrung der Grenzenlosigkeit. Alles zusammengenommen führt zur Erfahrung von Glückseligkeit, die keine Ähnlichkeit hat mit dem, was früher für Glücksgefühle da waren.

F: Kannst du es noch ein bisschen genauer beschreiben für jemanden, der es selbst nicht erlebt hat? Wenn das Plappern des Verstandes aufhört, was ist dann da? Wenn du z.B. jetzt in der Runde mit uns zusammensitzt, was geht dann in dir vor?

C: Nichts.

F: Dann sitzt du da und spürst die Glückseligkeit. Wie fühlt sich das für dich an?

C: Glückseligkeit kommt und geht und der Frieden ist die ganze Zeit da. Die Worte formen sich selber und werden gesprochen, ohne dass ich daran beteiligt bin. Da ist kein Ich, das daran beteiligt ist. Ich bin gewissermaßen genauso überrascht über die Worte, die ich jetzt sage, wie du.

F: Auch jetzt?

C: Vielleicht nicht ganz so überrascht, weil ich sie häufiger höre, als du sie hörst. Aber sie kommen für mich gewissermaßen genauso neu und genauso für mich als Zuhörenden, wie für dich.

F: Du bist dann eher in dem Mitschwingen mit dem, was jetzt auf dich zukommt.

C: Nicht im Mitschwingen. Versuch keine Analogie zu ziehen zum normalen, bewussten und aufmerksamen Umgehen. Es ist etwas anderes.

F: Gibt es da unterschiedliche Zeiten für dich oder Phasen, wo du merkst, jetzt kommt der Verstand doch oder ist das durchgängig dann so?

C: Es gibt unterschiedliche Zeiten; die Zeit des vollkommenen Alleinseins in der häufiger Ekstase und Glückseligkeit auftauchen. Beim Zusammensein mit anderen sind immer auch die Bedürfnisse der anderen da.

F: Ist das so, dass du dich dann von anderen Menschen mehr in Anspruch genommen fühlst? Du reagierst dann häufiger auf andere?

C: Die Reaktionen geschehen von alleine, und es kann auch Freude und Spaß machen. Dennoch ist die Zeit des Alleinseins die, wo die Stille am tiefsten ist.

F: Die Stille ist ja wahrscheinlich ein toller Zustand.

C: Das stimmt. Das ist sehr vorsichtig ausgedrückt. Wenn es eine Droge gäbe, mit der die Erfahrung dieses Seins erreichbar wäre, für diese Droge würden Menschen mehr bezahlen als für irgendetwas sonst. Sie würden ihr ganzes Hab und Gut für diese Droge hergeben.

F: So fühlst du, wenn du alleine bist?

C: Nicht nur. Die Ekstase, die Glückseligkeit kommt und geht. Der Frieden bleibt. Das sind zwei verschiedene Qualitäten. Der Frieden, die Stille bleiben; aber die Ekstase, die Glückseligkeit, die stellt sich mal mehr und mal weniger ein. Das ist unterschiedlich und sie kann auch im Zusammensein mit anderen Menschen da sein. Aber sie ist häufiger im Alleinsein erfahrbar.

F: Ist es dann nicht anstrengend mit anderen Menschen zusammen? Ist da nicht ein Wunsch in dir, lieber alleine zu sein?

C: Ich erlebe das nicht als Wunsch: „Oh, ich möchte gerne mehr davon oder mehr davon.“ Es scheint so, dass es sich ausbalanciert. Es scheint so, dass ich mit anderen zusammen bin, momentan mehr arbeite, als ich gerne möchte, aber im Prinzip – Alleinsein ist dann da, wenn es da ist.

F: Und dieser Zustand – hast du den plötzlich erlebt? War das Aufwachen plötzlich?

C: Ja, definitiv plötzlich um 11.10 Uhr bis 11.30 Uhr an einem bestimmten Tag – so plötzlich.

F: Magst du ein bisschen erzählen, wie du dahin gekommen bist?

C: Ja, alle aufgewachten Menschen, die ich gesprochen habe und auch von denen ich gelesen habe, beschreiben das Aufwachen als ein plötzliches, in einem bestimmten Moment stattfindendes, geschehendes Erleben, Erfahren. Die Worte sind alle etwas unzutreffend. Ja, ich kann beschreiben, was ich erfahren habe. Im Wesentlichen war es die Erfahrung eines Fallens, eines inneren Fallens, eines seelischen Fallens in einer Dunkelheit und in einer Enge.

F: Was hast du unmittelbar davor gemacht?

C: Es war am Ende eines zweiwöchigen Retreats bei meinem Lehrer Eli.

F: Hattest du dich schon länger mit ihm zusammen mit der Thematik beschäftigt?

C: Ja, drei Monate.

F: Du warst drei Monate bei Eli?

C: Na ja, einmal eine Woche und einmal zwei Wochen innerhalb dieser drei Monate.

F: Und dann am Ende eines zweiwöchigen Retreats – was war da, was ist da passiert? Warst du da allein?

C: Ja, ich war allein. Ich hatte mich auf die Veranda gesetzt.

F: Hast du dich Gedanken hingegeben in Bezug auf Aufwachen wollen oder Übungen gemacht?

C: In den zwei Wochen zuvor habe ich mir Gedanken über das Aufwachen gemacht, weil ich mit meinem Lehrer zusammen war. Was sonst sollte man da tun?

F: Du stecktest also in dieser Thematik?

C: Natürlich.

F: Hast du bestimmte Übungen gemacht?

C: Nein, es gibt keine Übungen.

F: Du hast einfach nur da gesessen und dann hast du gespürt, da ist plötzlich ..

C: Ja. In dem Retreat gab es zuvor eine Übung, wo das innere Loslassen, das innere Fallenlassen, das tiefer Fallen in einer Zweierübung praktiziert wurde, in der die beiden sich gegenseitig darin unterstützten. Das innere Loslassen und Fallen ist ein Üben von Nicht-Tun, das Üben von Nicht-Eingreifen. Unter Üben verstehen wir normalerweise etwas von einer Fähigkeit entwickeln, z. B. eine Sprache erlernen oder einen Kochkurs machen, um dann bessere Gerichte zu kochen. Hier geht es nicht darum, etwas zu lernen sondern anzuhalten, mit etwas aufzuhören. Auch ein Alkoholiker kann nicht üben, nicht zu trinken. Er kann nur aufhören zu trinken.

F: Also aufhören, sich Gedanken hinzugeben.

C: Ja. Und mehr noch als das. Man muss bereit sein, das zu fühlen, was da ist, ohne einzugreifen. In dem Moment des Fallens in die Unendlichkeit tauchen jede Menge Impulse auf von Angst, von Unheimlichkeit. Der Atem verändert sich, Angst zu ersticken taucht auf. Bei Menschen, mit denen ich arbeite, erlebt man das öfter.
In dem Moment musst du bereit sein, zu fallen, ohne diesen Impulsen nachzugeben. Mit der Bereitwilligkeit, sich nicht zu bewegen, erlebt man dieses Fallen als einen unwiderstehlichen Sog in die Tiefe. Wenn man dieses Fallen weiter und weiter zulässt, dann hört diese Enge plötzlich auf. Dann hört auch die Dunkelheit plötzlich auf, ohne dass man sagen kann, es ist ein Licht. Es wird hell, aber selbst hell und dunkel hören auf. Und dann wird das Fallen zu einem Schweben, zu einem Fliegen – und plötzlich kehrt sich auch das um, weil alles aufhört. Du erfährst dich als diesen ganzen Raum, in den du hinein gefallen bist. Gleichzeitig entdeckst du, dass du nichts bist und da nichts fallen kann und gleichzeitig bist du alles, weil du der ganze Raum bist, in den du hinein gefallen bist und dieser Raum hat keine Grenze. Das lässt den Verstand sofort in einem Moment still sein. Das bringt diese ganze psychische Struktur von: „Ich will, ich muss, ich muss aufpassen, was denke ich dazu, wie kann ich das erklären“ einfach zum Stoppen. Das verändert die Wahrnehmung – auch des Materiellen – vollkommen.

F: Inwiefern?

C: Seit Jahrhunderten sagen die Aufgewachten, dass es mit Worten nicht zu beschreiben ist und versuchen es dann mit Bildern und Metaphern. Letztendlich stimmt es, dass die Sprache nicht ausreicht, um das zu beschreiben, aber es sind solche Phänomene, dass die scheinbar feste Materie ihre Festigkeit verliert. Ganz deutlich ist die Wahrnehmung von Zeitlosigkeit. Es wird so erfahren, dass alles aus einer Stille entsteht und diese Stille sich dadurch, dass es entsteht, in keiner Weise als Stille verändert. Dieser Frieden und diese Stille entsprechen dem, was ewig genannt wird.

F: Es ist jedenfalls eine Wahrnehmung des Seins, die für uns in unserem üblichen Space ganz anders ist.

C: Richtig.

F: Das ist mir nicht unbekannt. Das haben andere auch schon so versucht zu beschreiben. Ich kann es einfach nur stehen lassen. Ich habe mal ein LSD-Erlebnis gehabt und daher weiß ich, dass die Wahrnehmung der Materie nicht mehr so fest gefügt erscheint.

C: Einzelne Aspekte können bei Menschen, die LSD in einer geringen Dosis nehmen, auftauchen.

F: Mich würde interessieren, hast du vorher längere Zeit Übungen oder irgendetwas Ähnliches gemacht? Ich denke es gibt Gründe, warum du da aufgewacht bist, außer dass Eli vielleicht so eine starke Ausstrahlung hatte.

C: Nein. Es ist die Übung des Anhaltens, das zu fühlen, was da ist, aufzuhören, irgendwie darauf zu reagieren und darin involviert zu sein. Das ist alles.

F: Fühlen, was da ist mit dem, was um dich herum passiert.

C: Nein, was in dir ist, was in dir auftaucht. Gefühle, die in dir auftauchen.

F: Die zu fühlen und ..

C: still zu sein ..

F: und keine Widerstände zu entwickeln.

C: Nicht nur keine Widerstände, sondern auch nichts damit zu machen. Es taucht ein Gefühl auf von Schmerz oder Freude und du hörst auf, irgendetwas zu erklären, irgendetwas zu denken, irgendwas damit zu tun. Du bist nur Freude oder Schmerz. Das ist, was einen immer tiefer fallen lässt. Sonst nichts. Einfach anhalten.

F: Hört sich so einfach an.

C: So einfach ist es.

F: Ich weiß ja, dass es trotzdem schwierig ist.

C: Es ist nicht schwierig, es ist nicht leicht, aber es ist einfach.

F: Es ist für viele Menschen nicht so leicht machbar, sonst würden ja viel mehr aufwachen. Es sind ja einige in deinen Gruppen, die gerne aufwachen würden und trotzdem passiert es doch eher selten, oder? Ich möchte das ja zum Beispiel gern erreichen, aber ..

C: Nein, du möchtest nicht.

F: Das kann man eben nicht so auseinander halten.

C: Doch. Wenn nur noch der Wunsch aufzuwachen da ist und kein anderer mehr, dann geschieht es sofort. Das ist keine neue Entdeckung, die ist ein paar tausend Jahre alt. Die Upanishaden sagen: Wenn jemand so sehr die Wahrheit verlangt, wie jemand, der unter Wasser ist, nach Sauerstoff ringt, der wird in derselben Sekunde die Wahrheit finden und aufwachen.

F: Meinst du, dass das bei dir der Fall war, dass du gar keine anderen Bestrebungen mehr in dir gefühlt hast?

C: Ja.

F: Es ist vielleicht auch Gnade, an dem Punkt zu sein.

C: Das ganze ist Gnade, aber nicht eine Gnade, die man sich verdient hat. Man kann sie nicht verdienen.

F: In vielen spirituellen Lehren, im Zen zum Beispiel, muss man lange, oft über Jahre meditieren, Übungen machen oder Mantren singen. Bei dem, was du hier sagst, muss man gar nichts vorher machen außer den innigen Wunsch haben, aufzuwachen.

C: Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Es gibt dieses Bild, dass der eine wie nasses Holz sei, das sich langsam entzündet. Jemand anderes ist trockenes Holz und entzündet sich viel schneller. Ein Dritter ist vielleicht wie Schießpulver. Du hattest die Frage gestellt: „Kann man etwas tun?“ Ich sage, ja, man kann etwas tun.
Du kannst zu der inneren Haltung des Nichttuns finden und die Fähigkeit entwickeln, still zu sein gegenüber den Gefühlen. Du kannst den Gefühlen vollkommen Raum geben und musst nicht eingreifen. Das ist etwas, was man üben kann. Es ist die Praxis vom Nicht-Tun. Das ist, was man 24 Stunden am Tag praktizieren kann.

F: Kannst du das noch ein bisschen konkreter sagen.

C: Das ist sehr konkret. Es taucht Freude auf und du tust nichts damit. Es taucht Langeweile auf und du spürst diese nagende Unruhe und machst nichts.

F: Gut, dann würde ich sagen, das mache ich doch schon so.

C: Das ist nicht richtig.

F: Nein, ich frage es provokativ.

C: Deine Schwierigkeit ist, das Gefühl, das nichts Besonderes ist, so ernst zu nehmen und so wahr zu nehmen, dass du dabei bleibst. Dann verbrennt das Gefühl und du kommst tiefer und dann kannst du finden, was unter dem Gefühl ist. Du nimmst ein Gefühl wahr, nach einiger Zeit wird es langweilig und es ist nichts Besonderes und dann gehst du weiter zu irgendwelchen Gedanken, zum inneren Zeitungslesen. Stattdessen besteht die Aufgabe darin, in dem Gefühl zu bleiben, ohne weg zu gehen. Dann verbrennt das Gefühl und dann taucht das auf, was unter dem Gefühl ist – vielleicht Angst beim Fallen in diese Bodenlosigkeit, in diese buchstäbliche Bodenlosigkeit. Und nach der Angst taucht vielleicht Ruhe auf. Unter den Gefühlsschichten, die im Moment da sind, ist auf jeden Fall Ruhe und Frieden. Um diesen Frieden geht es, nicht um den Frieden in der Meditation, wo alles beiseite geschoben wird. Das hilft nicht weiter.

F: Also eher mit voller Aufmerksamkeit bei den Empfindungen bleiben. Kann man dafür auch Empfindungen sagen?

C: Empfindungen sind eher Körperempfindungen, bei denen lohnt es sich nicht zu bleiben, sondern bei dem Gefühl und bei den Erfahrungen wie Stille, Ruhe und Frieden, die so eine ähnliche Qualität wie Gefühle haben.

F: Wenn ich jetzt keine besonders aufwühlenden Gefühle habe, ist es ja leichter, da zu bleiben. Das ist meine Erfahrung. Wenn ich Ärger spüre, dann kann ich da gut bleiben, weil ich deutlich etwas in mir spüre.

C: Aber du kannst die Fähigkeit entwickeln, im Ärger zu bleiben, ohne dir Gedanken zu machen.

F: Okay, selbst das kann man lernen. Nur dann kommt schnell der Punkt, an dem gar kein Gefühl mehr da ist.

C: Ja, das verbrennt, jedes Gefühl verbrennt. Gefühle dauern nicht länger als zwei Minuten. Und was ist dann?

F: Darum geht es? In diesem friedvollen Zustand zu bleiben, ohne sich zu sagen: „Es ist doch nichts da.“ oder „Es ist langweilig.“?

C: Richtig. Dann kannst du diesen Frieden, der auftaucht, untersuchen. Und dann fällst du in diesen Frieden hinein. Spätestens dann wird dir plötzlich unheimlich, weil da nichts mehr ist, an dem du dich festhalten kannst. Dann musst du dich diesem Unheimlichen aussetzen und diesem Unheimlichen begegnen, musst diese Angst fühlen, die darin steckt und immer noch nicht weg gehen. Sie verändert den Atem, sie verändert den Körper, sie verändert deine innere Situation. Und dann verbrennt auch diese Angst. Weil jedes Gefühl, was unberührt bleibt, in zwei oder drei Minuten verbrennt. Und dann bist du tiefer als diese Angst. Wer weiß. Und vielleicht reicht das aus so tief zu fallen, dass du plötzlich in der Bodenlosigkeit verschwindest, in diesem Abgrund.

F: Also das heißt auf jeden Fall still zu bleiben, einfach nichts zu machen, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und zu versuchen, Gedanken immer wieder loszulassen…

C:…indem du deine Aufmerksamkeit vollkommen auf die Erfahrung des Gefühls richtest.

F: Kann man für das Wort Gefühl nicht etwas anderes nehmen, z. B. Erfahrung des Seins? Bei Gefühl bin ich mehr irritiert, weil ich denke, da muss irgendetwas sein. Gefühl benutzt man ja landläufig für die Emotionen. Ich verstehe dich eher so, als wenn du damit diesen inneren friedvollen Zustand meinst, der auftaucht.

C: Wir waren doch gerade dabei, dass Schmerz auftaucht und dann Frieden.

F: Bei mir taucht gar kein Schmerz auf, auch keine Angst. Aber aus der Meditation kenne ich dieses Empfinden von da sein und da ist dann gar nichts weiter mehr. Das kann ich schon nachvollziehen, dass es gut wäre, in diesem Zustand zu bleiben.

C: Egal, was da ist. Egal, ob es eine aufwallende Emotion ist oder gerade nur eine Leere – immer da zu bleiben in dem, was du erfährst, dem Gefühl oder dieser Erfahrung, die tiefer ist als ein Gefühl.

F: Und dann zu schauen, wie es sich anfühlt, wenn ich wirklich dabei bleibe ohne aufzustehen.

C: Du musst nicht unbedingt dabei sitzen – wenn du spazieren gehst und dabei in die Tiefe fällst oder..

F: Ja, das kann schon passieren, aber das könnte ich mir für mich nicht vorstellen, weil ich dann immer abgelenkt wäre.

C: Nein, nein. Du wirst dann abgelenkt, wenn da nicht die Bereitwilligkeit ist, in die Tiefe zu kommen. Wenn die Bereitwilligkeit da ist und das absolute Verlangen danach, dann gibt es nichts, was dich ablenkt. Das ist das Entscheidende.

F: Gibt es denn von den äußeren Lebensumständen her Dinge, die man noch tun kann, um die Bereitwilligkeit und dieses innere Verlangen zu stärken?

C: Nein. Du kannst eines tun: das Leben angucken, so wie es ist. Ehrlicher angucken, so wie es ist. Das hilft. Die meisten Menschen haben ihre Sehnsucht längst auf irgendwelche Ersatzobjekte gerichtet, auf die Segeljacht oder das Zwergkaninchen, haben längst alles an Fragen und Wünschen an das Leben unter tausend faulen Kompromissen begraben und fühlen sich in diesem Trott, in der Routine dieses Daseins mehr recht und schlecht eingerichtet.

F: Ja, weil sie ja auch nicht die Idee haben, dass es darüber hinaus etwas gibt wie Aufwachen.

C: Ja, die Menschen haben Gott von dieser Erde verbannt und es wird kein Angebot mehr gemacht für die Jugendlichen, für die jungen Erwachsenen, für die Menschen. Ein Angebot an innerer Suche. Die Kirchen haben in der Richtung auch versagt. Vielleicht ändert sich da langsam ein bisschen, aber sehr langsam, sehr wenig.

F: Nicht die Kirchen haben versagt, sondern die Leute, die in der Kirche aktiv sind, haben keine Idee vom Aufwachen.

C: Stimmt. Das ist das Versagen.

F: Das ist eine ganz andere Ausrichtung. Klar, die Menschen reden von Gott. Aber für sie ist Gott mit etwas ganz anderem verbunden als damit, dass du selbst innere Erfahrungen machen kannst.

C: Seit der Reformation und seit der Aufklärung wurde in den Kirchen dieses Thema immer mehr verdrängt.

F: Meinst du, es war vorher mehr da?

C: Ja, natürlich. Luther hat alle Klöster abgeschafft.

F: Ja, aber was war in den Klöstern vorher?

C: Meister Eckart. Meister Eckart hatte hunderte von Schülern und Dutzende von erwachten Schülern. Johannes Tauler war ein später selig gesprochener erwachter Lehrer, ein Schüler von Meister Eckart. Ignatius von Loyola war ein erwachter Lehrer, der den Orden der Jesuiten gegründet hat, um systematisch andere darin zu unterstützen, die den Weg gehen wollten, aufzuwachen. Da fand sehr viel statt. Durch die Reformation und durch die Glaubenskriege wurde von der offiziellen Kirche und von vielen sonst das Mystische, das vorher da war, mehr und mehr zurückgedrängt. Andere Religionen haben ihre spirituelle oder esoterische Richtung viel lebendiger gehalten – bei den Juden die Kabbala, beim Islam die Sufis, im Hinduismus die Yogis und alle die, die nach Befreiung suchen – als das Christentum. Die Reformation und die anschließende Auseinandersetzung darüber – die Glaubenskriege – haben wesentlich dazu beigetragen, die Mystik aus dem Christentum zu verdrängen und zu verbannen. Und später hat die Aufklärung ein Weiteres dazu getan.

F: Hast du dich damit mehr befasst?

C: Ja. Insbesondere mit der christlichen Mystik, die ich sehr spannend finde.

F: Noch eine andere Frage. Dass du bei Eli warst, habe ich schon gehört. Gab es noch etwas, was du gemacht hast? Du meinst, dass deine Teilnahme an Elis Gruppe ein ganz wesentlicher Anstoß war?

C: Ja.

F: Auch dass in diesen zwei Wochen dein Wille so stark wurde, oder war das vorher schon?

C: Das war sicher vorher. Das erste, was ich in der ersten Woche von Eli gehört habe war, dass es nur eine Trance ist, zu glauben, dass das Aufwachen erst im nächsten Leben oder weit vor dir liegt. Solange man das glaubt, hat das die Tendenz, sich im Geist zu manifestieren.

F: Das hat zur Folge, dass man sich nicht mit ganzer Kraft darauf ausrichtet.

C: Mehr als das. Aufwachen bedeutet nur, dass Gedanken im Kopf beendet werden. Gedanken im Kopf beenden dauert eine Sekunde. Wenn du siehst, dass der Weihnachtsmann die Schuhe und den Bart vom Onkel Fritz hat, dann weißt du, es gibt den Weihnachtsmann nicht. Das erkennst du in einer Sekunde. Da brauchst du nicht wochenlang zu üben. Du weißt es plötzlich. Das heißt, bestimmte Konzepte und Gedanken können in einer Sekunde aufhören. In sofern ist das Aufwachen generell kein Phänomen von Zeit. Wenn man eine Sprache lernt, ist das ein Phänomen von Zeit. Stück für Stück lernst du es besser und übst es besser. Aufwachen ist nichts, was du erlernen kannst. Manche Menschen brauchen viel Zeit, bis sie dieses Aufhören zulassen können. Aber sie haben in dieser Zeit nicht wirklich etwas lernen müssen. Wie kann man solche Sachen beschreiben, wie den Mut haben, die Entschlossenheit haben, die Bereitwilligkeit haben. Es sind nicht Dinge, die eingeübt werden, und trotzdem braucht es für viele Menschen eine längere Zeit von innerer Entwicklung, von Auseinandersetzungen, von der Entwicklung der Fähigkeit des Anhaltens, auch des Einlassenkönnens auf Gefühle. Die Klarheit des Geistes zu entwickeln braucht mitunter eine längere Zeit.

F: Das werden wohl nur Menschen erleben, die sich danach ausrichten.

C: Nein. Eckart Tolle z. B. ist aufgewacht und hatte keine Ahnung davon. Er hat sich in keiner Weise bewusst darauf ausgerichtet. Und es gibt mehr Beispiele.

F: Er hat gar nichts in der Richtung gemacht?

C: Er hat weder etwas gelesen, noch gewusst, noch getan, noch gemacht. Ich kenne ein Frau, die ist vollkommen aufgewacht, die war vorher nur sehr krank. Sie hatte keine Ahnung, was das ist und was das sein soll.

F: Ein Krankheitsprozess kann also etwas verändern?

C: Auch bei Eckart Tolle ist sicher etwas verändert, aber er hat sich in keiner Weise bewusst darauf ausgerichtet oder hat irgendetwas bewusst getan. Er war einfach nur depressiv.

F: Das kann auch bedeuten, dass vielleicht ein Loslassungsprozess in ihm stattgefunden hat.

C: Das ist komplizierter.

F: Gibt es Ausschlusskriterien? Gibt es Menschen, bei denen du eher wahrnehmen würdest, dass sie sich damit befassen?

C: Nein, aber man sieht bei manchen, wie schwierig es ist, dass die dahin finden. So wie es heißt: Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Reicher in das Himmelreich. Wenn jemand nicht reich an Ländereien aber innerlich reich an Konzepten und Wünschen ist, dann wird er die größten Schwierigkeiten haben.

F: Ich denke auch, dass da schon ein Sog in die Richtung sein muss. Ich kenne Leute, die viel machen mit esoterischen Sachen und sich dafür trotzdem nicht interessieren.

C: Ja. Ein Großteil des spirituellen und des Eso-Bereiches ist einfach eine andere Form von Traum, eine andere Form von Betäubung und Beschäftigung.

F: Ist das so etwas, was auch Ken Wilber beschreibt?

C: Auch, ja.

F: Du warst ja auch in dem Arbeitskreis von Ken Wilber.

C: Ich bin in dem Arbeitskreis.

F: Okay. Was von Wilbers Konzepten findest du denn besonders gut und brauchbar? Was könnte es unterstützen, sich in die Richtung das Aufwachens auszurichten?

C: Wovon ich gerne immer wieder erzähle ist das Beispiel von Treya Wilber und ihr Aufwachen. Ihr geistiger Lehrer war Ramana. Vom dem schreibt sie, dass er ihr immer wichtiger wurde. Sie wachte auf zu dem Zeitpunkt, als sie den Kampf gegen den Krebs aufgab in der Erkenntnis, dass sie den Tod annehmen müsste; und zwar mit dem Bewusstsein, jeden Tag sterben zu können. Im vollkommenen, tiefen Annehmen des Todes wachte sie auf.
Das ist auch etwas, was man in anderen Biografien finden kann. Das Fallen in die Bodenlosigkeit, das ich vorhin beschrieb, ist gleichzeitig die innere Bereitwilligkeit völlig zu sterben. In diesen Augenblick hinein zu sterben. Das bedeutet nämlich, keine Pläne für die Zukunft zu haben und zu machen und an nichts anzuhaften. Dann ist man vollständig im Augenblick. Die Beschreibung dieses Aufwachens, auch die Interpretation von Ken Wilber, finde ich ausgesprochen wertvoll. Als nächstes gefällt mir das Buch „Eros, Kosmos, Logos“ am besten. Das Buch zeigt einfach über die verschiedenen Kulturen und über die Philosophie des Abendlandes die Einheitlichkeit der Suche nach der Wahrheit, zeigt, wie zwingend immer wieder und wie gleichgerichtet durch die Jahrtausende diese Suche nach der Wahrheit erfolgte und erfolgreich was. Das macht die Selbstverständlichkeit des Aufwachens an sich und die Möglichkeit des Aufwachens sehr viel deutlicher. Das ist vielleicht auch noch ein wichtiger Punkt. Wir haben vorhin über das Verlangen, über den Wunsch des Aufwachens und auch über die spirituelle und Eso-Szene gesprochen. Auch da gibt es viele Menschen, die tatsächlich aufwachen wollen. Aber solange für jemanden das Aufwachen selbst nicht realisierbar erscheint und zwar für sich selber, nicht für irgendeinen Buddha oder irgendeinen im Himalaya Lebenden, solange es nicht wirklich als realisierbar vor Augen ist, solange wird es deine innere Energie und Kraft nicht darauf ausrichten.

F: Das hast du vorhin ja schon gesagt.

C: Es braucht nicht nur den Wunsch, sondern das Wissen über die Realisierbarkeit.

F: Ja, das ist vielleicht noch ein wichtiger Punkt. Also heißt das, es wäre gut, wenn ich „Eros, Kosmos, Logos“ lese, aber da bin ich erst einmal 500 Seiten lang abgelenkt.

C: Macht ja nichts. Wach während dessen auf. Mein eigener Eindruck über Ken Wilber ist der, dass er im Zuge der Begleitung von Treya und in der Verarbeitung ihres Todes aufgewacht ist, das aber für sich selber nicht richtig reflektiert hat, sondern sein eigenes Erwachen seinen buddhistischen Übungen zuschreibt. Das ist mein persönlicher Eindruck von Ken Wilber. Ich glaube, dass von den ganzen Büchern „Eros, Kosmos, Logos“ am stärksten den Geist des Aufwachens und den Geist der inneren Befreiung atmet, viel mehr als irgendwelche Bücher sonst von ihm.

F: Wir waren doch bei diesen Leuten, die sich sehr stark mit sich selber und in dem Fall auch mit dem Aufwachen beschäftigen. Sind das nicht auch Leute, die gefährdet sind, die sich einfach nur mit sich selber beschäftigen, narzisstisch, selbstorientiert? Könnte das auch ein neurotisches Muster sein, zu sagen: „Ich will aufwachen.“, ohne es ernsthaft zu betreiben?

C: Ja, kann. Ich glaube, dass diese Menschen in meinen Gruppen nach kurzer Zeit wieder weg bleiben, weil sie nicht bedient werden. Sie treffen sich immer wieder in sogenannten Satsangs, weil sie die Energie, das Heilsein während des Zusammenseins mit dem spirituellen Lehrer so sehr schätzen und so sehr wünschen, dass es den Charakter von Flucht haben kann oder von einer neuen Droge. Es gibt ganz sicher Satsang-Lehrer, die diese Bedürfnisse bedienen.

Therapie und Spiritualität

Therapie und Spiritualität

(aus: „Körper, Geist, Seele“ Nov. 2002)

Heute können wir sowohl aus der Weisheit der verschiedenen spirituellen Wege als auch dem Wissen und der Erfahrung der Psychotherapie schöpfen. Wie aber wirkt sich Spiritualität auf die Therapie aus?

Einige Schlussfolgerungen

Alle Formen von Psychotherapie können als Medizin wirken, aber sie sind begrenzt. Sie besänftigen die innere Sehnsucht nicht wirklich und führen nicht zu einem „zu Hause ankommen“. Deswegen ist der spirituelle Weg für immer mehr Menschen so wichtig geworden. Das spirituelle Ziel, aus dem inneren Gefängnis in die Freiheit zu kommen und nicht nur die Haftbedingungen zu verbessern, geht über die Therapien hinaus und verändert sie. Man kann nicht einfach wie gewohnt Therapie machen und dazu etwas Meditation und das dann spirituelle Therapie nennen. Die Arbeit mit den Gefühlen ändert sich, statt der Geschichte rückt die existentielle Situation in den Mittelpunkt, es findet eine Öffnung für Erfahrungen jenseits des Intellekts und jenseits der Sinne statt. Zudem kannst du als Therapeut deinen Klienten nur so tief begleiten, wie du selbst gekommen bist. Dies ist noch wichtiger als das Erlernen der Werkzeuge. Diese Verbindung von Spiritualität und Therapie möchte ich in einem Vortrag, im Rahmen eines Wochenendseminars und auch in einer längeren Fortbildung darstellen und erfahrbar machen. Dies Angebot wendet sich an TherapeutInnen und Menschen aus anderen Heilberufen, die den spirituellen Aspekt ihrer Arbeit entdecken und vertiefen und neben ihrer Arbeit ihre eigene Entwicklung fördern möchten.

Spiritualität

Aufzuwachen ist das Ziel einer Spiritualität, die eine grundlegende Transformation des Bewusstseins und nicht eine andere Art des Glaubens will. Aufzuwachen – das Wort „Erleuchtung“ ist missverständlich – heißt, einen inneren Frieden gefunden zu haben, der alle Vorstellungen übersteigt. Es bedeutet, alle Erfahrungen lebendig und intensiv zu erleben und gleichzeitig in diesem Frieden und in dieser Liebe zu existieren und dieses zu sein. Dabei ist der Verstand still, das zwanghafte Plappern des Verstandes ist beendet und das Denken wird benutzt, wenn es nötig ist. Heute kann jeder aufwachen. Das Aufwachen ist gleichzeitig ein Moment und ein Prozess: ein Moment des Fallens ins Bodenlose und ein Prozess der Öffnung und der Integration in das Leben.

Psychotherapie

Psychotherapie kann Probleme lösen helfen (Symptom-Ebene) und hilft, dass du dich annimmst, liebst und Selbstvertrauen entwickelst (Ebene der Ich-Integration). Therapie ist um so wirkungsvoller, je mehr sie die Heilung von Seele, Geist und Körper im Auge behält. Es entwickelten sich wertvolle Wege wie die verschiedenen Körpertherapien, die Trance- und Hypnose-Therapie, das Familien-Aufstellen nach Hellinger und die Enneagramm-Arbeit. Manchmal wird in der Therapie eine Brücke gefunden zum Spirituellen, aber zum wirklichen Frieden findet man erst jenseits der Therapie (Ebene der Ich-Transzendenz).

Annehmen, was ist.

Alle spirituellen Wege enthalten die Aufforderung, das anzunehmen, was ist und den Kampf zu beenden, zuerst den inneren und dann auch den äußeren. Auch Therapie verfolgt dieses Ziel, der Unterschied liegt in der Tiefe. Unter der Freude, Trauer, Wut und dem Schmerz taucht Angst auf. Nicht die Alltagsängste, sondern die existentielle Angst vor der Bodenlosigkeit, der Leere, dem (existentiellen) Alleinsein und dem Tod. Damit verbunden ist eine tiefe Verzweiflung und darunter ein schwarzes Loch. Dieser Angst vor dem Tod und dem schwarzen Loch ist der Mensch sein ganzes Leben davongelaufen. Dem zu begegnen ist nötig, um zu deiner wahren Natur zu finden. Diesem inneren Tod. Deswegen sprechen die Mystiker davon „zu sterben, bevor du stirbst“ und vom „mystischen Tod“, der ein Leben in Freiheit ermöglicht. Annehmen, was ist, den gegenwärtigen Augenblick ohne Widerstand und ganz fühlen, führt dich sehr schnell dahin. Dann kannst du deine wahre Natur erfahren.

Erfahrung jenseits des Intellektes und jenseits der Sinne

Der Begründer der Gestalttherapie, Fritz Perls, forderte: „Komm zu deinen Sinnen!“ Er wandte sich – so wie auch Wilhelm Reich, der die Körpertherapie begründete – gegen das „Darüber-Reden“. Die Erfahrung des Friedens, des Bewusstseins und der Liebe ist jedoch etwas Tieferes als Gefühle und liegt jenseits der Sinne. Gefühle haben einen Anfang, sie nehmen zu und klingen wieder aus. Sie werden stärker erfahren, wenn der Atem zunimmt, und sie drängen zu einer Bewegung. Dagegen nimmt die Erfahrung des Friedens, der Liebe und auch des tieferen Glücks zu, während der Atem abnimmt, sie werden erfahren als immer da und sie führen tiefer in die Stille. Wenn also die Therapie sich auf die Erfahrung der Sinne beschränkt, ist das eine Sackgasse. Das wirkliche Abenteuer fängt erst jenseits davon an.

Ohne Ausagieren und ohne Dissoziieren

Therapie dreht sich in verschiedener Form um den Ausdruck von Gefühlen, entweder nach außen wie in der Körpertherapie, Gestalttherapie oder Psychodrama oder nach innen, in Gedanken, in Bildern und Erinnerungen wie in der Psychoanalyse oder Gesprächstherapie. Die Meditation und das Yoga aus dem Osten bedeuten dagegen im Wesentlichen eine Dissoziation von den Gefühlen: Du nimmst dich nur als Beobachter wahr oder führst sogar deine Aufmerksamkeit bewusst von den Gefühlen weg. Beide Wege, der Ausdruck und die Dissoziation der Gefühle, sind eine Sackgasse. Es gibt einen dritten Weg: Das Gefühl vollständig zu fühlen, einzutauchen in das Gefühl und keiner Bewegung in die Gedanken, Bilder oder nach außen zu folgen. Du kannst dann die Impulse wahrnehmen, folgst ihnen aber nicht, du bleibst still. In keiner Therapie, die ich erlernt habe, habe ich jemals eine solche innere Bewegung in die Tiefe und transformative Kraft erfahren. Dies wird von vielen spirituellen Lehrern der Gegenwart gelehrt, findet sich aber auch schon bei Meister Eckhart oder bei Ramana Maharshi.

Aufwachen und Therapie

Aufwachen und Therapie

(aus: „SEIN“ Nov/2002)

Viele Menschen – sowohl TherapeutInnen als auch Menschen, die eine Therapie machen – entdecken, dass Therapie alleine nicht ausreicht, um wirklich den inneren Frieden, die Glück und die Freiheit zu finden, den sie sich wünschen. Trotz der Therapie sind sie noch nicht „zu Hause angekommen“, sie spüren immer noch die innere Sehnsucht. Therapie kann helfen, viele Verletzungen und Wunden zu heilen, aber um wirklich die innere Freiheit zu finden, ist eine spirituelle Perspektive nötig. Heute kann die Weisheit der verschiedenen spirituellen Wege verbunden werden mit dem Wissen und der Erfahrung therapeutischer Wege.

Man kann jedoch nicht einfach wie gewohnt Therapie machen und dazu etwas Meditation und das dann spirituelle Therapie nennen. Wenn Spiritualität eine grundlegende Transformation des Bewusstseins und nicht eine andere Art von Weltanschauung meint, dann verändert sie die therapeutische Arbeit tiefgreifend.

Das Ich tritt zurück

Jeder spirituelle Weg zielt darauf, dass die Illusion des Ich sich auflöst und das Einssein erfahren wird. Wenn das Ich „schwach“ ist, nimmt es sehr viel Raum ein: In Zeiten der Verunsicherung, in denen dann alle Gedanken um das Ich kreisen, um die Ängste und Sorgen. Da werden die Äußerungen der anderen auf einen selbst bezogen, alles wird zu einer Befürchtung, es entstehen endlose innere Dialoge, es wird sich selbst kritisiert, kommentiert und infragegestellt. Ein „starkes“ Ich dagegen nimmt wenig Raum ein, es tritt zurück. Je mehr du dich dann dem Fluss des Lebens anvertraust, desto mehr wirst du zum Beobachter des Lebens. Dabei bist du vollkommen lebendig, setzt dich dem Strom des Lebens ganz aus, aber du fühlst dich gleichzeitig voller Frieden und nimmst die Dinge nicht persönlich. Dann erfährst du das Nicht-Getrenntsein, und in dieser Erfahrung des Einssein wird das Ich sichtbar als eine Illusion. Das ist das Aufwachen, das früher so missverständlich „Erleuchtung“ genannt wurde. Das Aufwachen ist sowohl ein Moment des erstmaligen Erkennens als auch ein Prozess der Vertiefung und der Integration.

Solange die Ich-Gedanken da sind, werden praktisch alle Wahrnehmungen auf das Ich bezogen, direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst. Das hat zur Folge, dass das Denken nicht abreißt. Da beschäftigen sich die Menschen dann mit Kreuzworträtseln oder mit Computerspielen, um den Geist einmal entspannen zu können. Das ist ein Witz. Wenn die Ich-Gedanken aufhören, dann kann der Geist still sein, und der Verstand wird nur benutzt, wenn er gebraucht wird. Diese „Ebene der Ich-Transzendenz“ geht über jede Therapie hinaus. Therapie kann Probleme lösen helfen – die „Symptom-Ebene“ – und verbessert das innere Verhältnis zu dir selbst – die „Ebene der Ich-Integration“. So können Wunden heilen, aber jede Therapie ist begrenzt, und Heilung muss auf allen drei Ebenen stattfinden.

Der Weg des Aufwachens

Häufig wird unter dem spirituellen Weg ein Weg des Übens verstanden: Üben von Konzentration, üben von Mitgefühl, üben von Gerade-Sitzen, üben von Yoga-Haltungen. Aber das Aufwachen kann nicht eingeübt werden. Es ist nicht das Ergebnis von etwas, was gelernt werden kann. Nötig ist die Veränderung der inneren Haltung dem Leben gegenüber, die das Aufwachen wahrscheinlicher macht. Der Mensch macht früh die Erfahrung von Schmerz, von Tod und von der inneren Leere, dem schwarzen Loch. Er erfährt Hilflosigkeit und Ohnmacht. Von da an entwickelt er Strategien, Schmerz, Tod, dem schwarzen Loch und der Ohnmacht davonzulaufen. Es ist ein Paradox: Nicht der Schmerz, sondern das Weglaufen schafft den Alptraum und die innere Verkrampfung. Die Haltung, bereit zu sein, alles zu erfahren, was auftaucht, auch die tiefe Angst vor der Bodenlosigkeit, dem Tod und dem existentiellen Alleinsein, das ist der wichtigste Schritt, um die Freiheit und das Aufwachen zu entdecken. Das ist die Folge einer inneren Wahrhaftigkeit und wird belohnt mit einer zunehmenden Lebendigkeit und tieferen Frieden.

Therapeutische Wege

Die Arbeit mit dem Enneagramm verbreitet sich. Das Enneagramm ist ein Weg, die eigene Charakter-Fixierung und die innere Dynamik des Verhaltens wie in einem klaren Spiegel zu sehen. Es gibt 9 Fixierungen – und gleichzeitig ein paar Milliarden Persönlichkeiten. Wenn aber deine grundlegende Struktur, der Film, in dem du steckst, so überhaupt nichts besonderes, ja noch nicht einmal persönliches ist, dann ist das zugleich erschreckend und erleichternd. Das hilft dir zu realisieren, dass du etwas anderes bist, als der Film, der da abläuft. Du bist Liebe, Bewusstsein, Leere, die als tiefer, zeitloser Frieden erfahren wird.

Körper-Therapeuten sind oftmals gewohnt, Wege zum Spirituellen zu finden. Die Blockaden lösen sich und der Körper wird durchlässiger für die Erfahrung der Energien und der Gefühle. Die Erfahrung von Frieden, Liebe, Leere und Bewusstsein geht jedoch über die Grenzen des Körperlichen hinaus. Die Wahrnehmung der Körperempfindungen stehen oft so im Vordergrund, dass die tieferen Erfahrungen einfach verdeckt bleiben. Die Gefühle auszudrücken kann hilfreich sein für die Entwicklung von Lebendigkeit. Aber das ist erst der Anfang, und da liegt die Grenze der Körperarbeit. Die spirituelle Transformation erfordert das Gefühl vollständig zu fühlen und gleichzeitig weder wegzulaufen noch es auszuagieren, sondern still zu bleiben. Dadurch entsteht ein inneres Feuer, das dich in eine Tiefe führt, die dir vorher unbekannt war.

Trance, Hypnose und NLP zeigen, wie willkürlich die inneren Konzepte, Gedanken und Gefühle sind, wie wenig Realität ihnen zukommt und wie schnell sie oft geändert werden können einschließlich der Selbstkonzepte. Eine Reihe von Werkzeugen aus diesem Bereich, die oft auch große Ähnlichkeit mit schamanistischem Heilwissen haben, sind sehr wirkungsvoll. Und sie können erkennen helfen, wie unwirklich die Konzepte sind, einschließlich der Idee von einem „Ich“. Die Gefahr liegt allerdings darin, sich selber soviel zu manipulieren, dass das ganze Leben und die Person selber immer künstlicher wird und sich von der Lebendigkeit entfernt.

Es wäre etwas zum Familienaufstellen und zur Gestalttherapie zu sagen, die ja – nicht nur über Allan Watts – direkt vom Zen-Buddhismus beeinflusst war. Oder auch zur Psychoanalyse – alle therapeutischen Wege können Medizin sein, aber sie sind begrenzt. Eine spirituelle Perspektive kann und sollte diese Wege nutzen, aber die therapeutische Arbeit bleibt nicht die gleiche.

Diese Verbindung von Spiritualität und Therapie möchte ich in einem Vortrag und im Rahmen eines Wochenendseminars darstellen und erfahrbar machen. Dies Angebot wendet sich an TherapeutInnen und Menschen aus anderen Heilberufen, die den spirituellen Aspekt ihrer Arbeit entdecken und vertiefen und neben ihrer Arbeit ihre eigene Entwicklung fördern möchten.