Die Angst einladen

Die Angst einladen

Interview mit Christian Meyer aus: „Sein“ Dez.2006

Ich habe keine Angst – das zumindest behaupten viele Menschen. Doch hinter der Fassade von Aktionismus und vermeintlicher Lebenstüchtigkeit lauert die Todesangst des Ichs, die Furcht, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, die Panik, dass der Boden unter den eigenen Füßen wegbricht, wenn wir das Steuer aus der Hand geben. Im Gespräch mit Jörg Engelsing schildert Christian Meyer den Umgang mit Angst und anderen schwierigen Gefühlen.

Sein: Warum ist eigentlich die Angst so ein zentraler Aspekt des menschlichen Daseins?

C: Weil der Körper das Programm hat: „Ich will überleben.“ Dieses Programm bindet ihn an die Konditionierung. Es lässt ihn angenehme Situationen aufsuchen und unangenehme meiden. Früher ist der Mensch vor dem Bären weggelaufen. Er brauchte dieses Programm, damit die Evolution voranschreiten konnte. Die Aufgabe, sich über das heutige Evolutionsniveau zu erheben, besteht jetzt darin, dass man dieser immanenten Todesangst ganz begegnet – ihr so völlig begegnet, als wenn man jetzt sterben würde. Und dann setzt man sich damit auseinander, ob man bereit ist dazu.

Sein: Bereit zu sterben?

C: Ja. Zu sterben, wenn es von einem gefordert wird. Nicht, weil man sterben will. Im Gegenteil. Weil man, obwohl man das Leben liebt, einverstanden ist zu sterben, wenn es so sein soll. Wenn man durch diese damit verbundene Angst völlig durchgeht, dann stirbt man den inneren Tod, den die Mystiker immer benennen. Dann gibt es auch ein Ende der Angst.

Sein: Ist die Angst dann tatsächlich beendet, oder muss man immer wieder durchgehen?

C: Mit diesem Durchgehen ist die Angst zu Ende. Es ist ein sehr radikales Durchgehen und bedeutet aufzuwachen.

Sein: Was verändert sich dann?

C: Durch das vollständige Aufwachen kommst du von der oberflächlichen Wahrnehmung der Welt und dessen, was du bist, zu einer tieferen Wahrnehmung, die unendlich ist, die keine Grenze hat. Und du selbst erfährst dich selbst als diese Unendlichkeit. Das ist begleitet davon, dass der Verstand still wird, und dass du in dieser Unendlichkeit einen unglaublich glückseligen Frieden erfährst. Es ist alles so still und gleichzeitig so friedvoll und eine solche Glückseligkeit. Es ist ein vollkommenes Erfülltsein. Diese Wahrnehmung ist vor dem Aufwachen nicht möglich, höchstens in kleinen Portionen und kurzen Erfahrungen. Um von der oberflächlichen Wahrnehmung, in der sich der normale Mensch bewegt, zu der tieferen zu gelangen, muss man offensichtlich durch ein Tor. Und dieses Tor hat mit dem Tod und der Bereitschaft zu sterben zu tun, mit dem vollkommenen Loslassen.

Sein: Wenn man da durchgegangen ist, ist dann nicht einfach nur diese psychologische Angst gestorben? Kann der Körper nicht trotzdem noch Angst empfinden, beispielsweise wenn man auf einem Brückengeländer balanciert?

C: Ja. Das ist was anderes. Solche Ängste kann der Körper haben, wenn der Tiger im Zoo ausgebrochen ist, oder er kann auch Höhenängste haben. Das sind Ängstlichkeiten. Aber auch diese konkreten Ängste können durch das Aufwachen wie weggewischt sein. Was sich auf jeden Fall radikal ändert: Es gibt keine Angst mehr vor dem Tod. Es gibt auch keine Angst mehr, die Kontrolle zu verlieren, weil du erkannt hast, dass es gar nichts zu kontrollieren gibt, dass du gar keine Kontrolle hast.

Sein: …sie nie gehabt hast.

C: Genau.

Sein: Viele Menschen behaupten, gar keine Angst vor dem Tod zu haben…

C: Das liegt daran, dass der Mensch von klein auf gewohnt ist, die mentale Vorstellung vom Tod abzuspalten von den inneren Gefühlen der Bodenlosigkeit, der Leere und des Ausgelöschtseins. Wenn derjenige dann wieder nach innen geht und anfängt, seine innere Tiefe zu erforschen, dann wird es schnell unheimlich, dann bemerkt er diese Bodenlosigkeit, diesen Abgrund, dieses schwarze Loch. Und dann merkt er, dass da Angst ist. Existenzielle Angst, die nicht mit Gedanken zusammenhängt, sondern mit dieser Bodenlosigkeit. Um diese Angst geht es. Und dieser Angst begegnet jeder, sobald er sich tiefer auf sich einlässt.

Sein: Welche Möglichkeiten gibt es, sich dieser Angst zu stellen? Man kann ja nicht einfach zu Hause sagen: „Jetzt will ich sterben.“, denn das ist ja der Punkt, dem wir am stärksten ausweichen.

C: Das Entscheidende ist, sich mit zwei Fragen auseinander zu setzen: Bin ich wirklich bereit, die Angst zu fühlen, selbst wenn ich Angst habe, dass sie mich überwältigt. Und: Warum will ich mich ihr überhaupt stellen? Wenn wir bereit sind, die Angst – und alle anderen Gefühle auch – zu fühlen, egal, was dabei auf uns zukommt, dann ist das so etwas, wie die Angst einladen. Diese Bereitschaft, die Angst und die anderen Gefühle zu fühlen, entsteht aus dem Wunsch, heraus zu finden, was darunter ist, dem Wunsch, die Wahrheit zu entdecken, die tiefer ist. Wenn man mit dieser nüchternen Intention darauf zugeht, dann hat man gewissermaßen das Bedürfnis hinter sich gelassen, dass es einem gut gehen soll.

Sein: Kann man das allein schaffen?

C: Nein. Man braucht Unterstützung. Es ist ein Prozess, der Angst – und auch allen anderen Gefühlen – zu begegnen. Es ist ein Prozess, in dem ich, wie beim Segeln, zuerst das Segeln bei schönem Wetter übe. Dann traue ich mich aufs Wasser, wenn mehr Wind aufkommt. Mit zunehmender Übung und Routine bin ich dann auch bereit, dem Sturm zu begegnen. In Bezug auf die Gefühle bedeutet das – und das ist einer der wichtigsten spirituellen Entdeckungen, die überhaupt je gemacht wurden – dass es darauf ankommt, sich in das Gefühl hinein sinken zu lassen und alle Impulse, zurück zu den Gedanken zu gehen, in die Geschichte, in Vorstellungen, in Fantasien oder ins Ausagieren, alle diese Impulse nicht zu beachten. Es geht wirklich darum, ganz und gar in dem Gefühl zu bleiben. Das ist etwas anderes, als es in den traditionellen Meditationen oder Therapieformen gelehrt wird. In der traditionellen Meditation lernt der Meditierende, nur der Beobachter zu sein, und sich nicht mehr wirklich von dem Gefühl erfassen zu lassen. In der westlichen Therapie lernt der Mensch, die Gefühle zu bearbeiten und die Gefühle auszudrücken, die Gefühle zu erklären oder in der Körperarbeit, in der Gestaltarbeit, in die körperliche Bewegung umzusetzen. Und hier gibt es etwas, was dazwischen steht. Was weder eine Dissoziierung durch das nur Beobachten ist, noch ein Ausagieren und die Energie in die Bewegung und in das Tun umsetzen. Wenn wir in dem Gefühl bleiben und den Impulsen nicht folgen, verbrennt das Gefühl und bringt einen automatisch tiefer und tiefer, zu einem tieferen Gefühl, oder zu dem Frieden und der Stille, die unter dem Gefühl liegen. Das ist der Weg. Und dabei gibt es Unterstützung durch die Gemeinschaft, durch die anderen Menschen, die auch auf dem Weg sind, durch den Lehrer, der mit dir arbeitet und durch konkrete Übungen. Mit der Zeit erlangen wir die Fähigkeit, im Gefühl zu bleiben, ohne den Impulsen zu folgen – während der Arbeit, während des Kontaktes mit den Kindern, in der Beziehung, auf dem Spaziergang, wo auch immer. Und mit dieser Fähigkeit können wir der größten Angst begegnen, wie auch immer sie kommt.

Sein: Sind Menschen mit Panikattacken oder Psychosen näher an dieser Angst?

C: Ja, aber sie nehmen diesen Angst als so überwältigend wahr, dass sie sich von ihr abspalten und in den Kopf gehen. Und dort folgen sie dann ihren Fantasien und Gedanken.

Sein: Wie lange brauchen die Menschen im Durchschnitt, um sich wirklich auf diese Gefühle einzulassen, und nicht mehr davor weg zu laufen?

C: Das ist völlig unterschiedlich. Manche haben länger damit zu kämpfen, andere scheinen, aus welchen Gründen auch immer, sehr schnell den Weg zu erfassen und in sich umzusetzen. Die Entwicklung verläuft nicht so wie ein sanfter Berg, den man aufsteigt und Stück für Stück nach oben geht, sondern da sind eher Stufen. Es gibt Rückschläge oder Zeiten, wo sich jemand länger wie auf einem Plateau fühlt und gar kein Fortkommen zu sein scheint, und dann findet plötzlich eine starke Veränderung statt.

Sein: Viele Menschen sind schon seit 10, 20 oder 30 Jahren auf dem Weg und der entscheidende Durchbruch geschieht nicht. Warum?

C: Auf vielen spirituellen Wegen findet viel zu viel Dissoziation statt. Viel zu viel geschieht im Mentalen und viel zu wenig Klarheit besteht darüber, was eigentlich mit den Gefühlen los ist. In spirituellen Kreisen gibt es oft die Idee: Wenn man das Gefühl ganz fühlt, sei das die Identifizierung mit dem Gefühl. Das ist ganz großer Unsinn. Fühle ich das ganze Gefühl so sehr, dass ich zu dem Gefühl werde, dann gebe ich mich dem Gefühl hin. Nur wenn ich mich diesem Gefühl total aussetze, egal, was es mit mir macht, bedeutet das ein wirkliches Annehmen dessen, was ist. Eine Identifizierung mit dem Gefühl geschieht erst da, wo ich mit dem Gefühl etwas mache. Wo also eine Freude da ist und ich beispielsweise darüber nachdenke, wie ich diese Freude morgen auch noch haben kann. Oder dass ich diese Freude schnell meinem besten Freund mitteilen muss. Oder dass ich plötzlich Angst habe, vor Freude zu explodieren und dann etwas tue, um sie einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Dieses Tun, dieses nach dem Gefühl greifen und etwas damit machen, das ist das Identifizieren. Das Ich will das gute Gefühl fördern und beibehalten und das unangenehme Gefühl unter Kontrolle haben und weg schieben. Etwas mit dem Gefühl tun, das ist die Identifikation. Das Gefühl einfach aufwallen zu lassen und in sich zu erfahren und geschehen zu lassen, das ist keine Identifikation.

Sein: Das ist aber unglaublich schwierig, weil die Gedanken sich schnell einschalten, um dieses Gefühl irgendwie einzuordnen und zu bewerten.

C: Ja, aber du lernst es mit der Zeit, und dann ändern sich auch die Gedanken. Dann kommt der Gedanke: „Ah, was mag das für ein Gefühl sein, was sich da zeigt?“ Oder:“ Moment, jetzt achte mal darauf, dass der Körper losgelassen ist und dass vielleicht der Atem anders fließen will. Öffne doch mal den Mund.“ Oder: „Wie entwickelt sich dieses Gefühl in mir? Ist es eine Trauer oder eine Wehmut oder ist da vielleicht noch ein anderes Gefühl? Ich will dem Raum geben und erforschen und erkunden, was da ist.“ Das sind Gedanken, die dann dieses Gefühl begleiten. Das ist gewissermaßen die innere Begegnung mit dem Gefühl. Und wenn dem Menschen dann mehr und mehr das Aufwachen und die Wahrheit wichtig ist, dann fängt er an, sich auf diese Weise dem Gefühl zu nähern. Gedanken wie: „Wo kommt es her? Warum habe ich das bloß? Und wieso schon wieder? Und warum geht es mir nicht besser? Und ich wollte das doch gar nicht.“ sind dann einfach nicht mehr da.
Das heißt gleichzeitig, dass dieses Gefühl gefühlt wird innerhalb eines Raumes von Frieden, weil man nicht mehr ankämpft gegen das Gefühl, weil das Gefühl da sein darf, egal ob es im Augenblick angenehm ist oder unangenehm. Ich tue nichts mit dem Gefühl, ich transformiere nicht, ich beobachte auch nicht. Natürlich, das Bewusstsein ist im Hintergrund da und nimmt gleichzeitig wahr, was geschieht. Aber ich tue nichts, ich tue einfach nichts. Ich setze mich dem aus und dann geschieht etwas, was man das Verbrennen des Gefühls nennen kann.

Sein: Wenn ich diese Angst fühle, ist dann der Erwachsene, als der ich wahrnehme, noch da oder verschwindet der auch noch?

C: Der Erwachsene ist derjenige, der wahrnimmt, dass dieses Gefühl jetzt ganz gefühlt wird. Aber das Ich ist nicht mehr da. Das Ich besteht aus den Gedanken: „ich will“ und „ich will nicht“, „ich muss“, „ich sollte“ und „ich kann nicht“. Das sind die Gedanken, die das Ich konstituieren. Und das sind die Gedanken, die normalerweise gegenüber einem Gefühl auftauchen. „Dieses Gefühl kann ich nicht bewältigen. Dieses Gefühl mag ich heute nicht haben. Von dem Gefühl will ich mehr“, das sind die Gedanken, die das Ich sich macht. Wenn ich mich aber dem Gefühl aussetze ohne zu fragen: „Fühle ich mich jetzt gut dabei? Wie lang wird das dauern? Was wird es mit mir machen?“, dann stirbt tatsächlich in diesem Augenblick das Ich, es ist beendet, weil mit dem Gefühl nichts gemacht wird. Je häufiger auf diese Weise mit den Gefühlen umgegangen wird, desto schneller blättern die Schichten des Ichs von uns ab. Diese Haltung den Gefühlen gegenüber ist ein 24-Stunden-Job und nichts, und schon gar nichts in erster Linie, was nur im Meditationssitz geschieht.

Sein: Kann ich mir wirklich bewusst sein, was ich fühle, während ich arbeite?

C: Wenn nicht so viel plappernde Gedanken im Kopf sind, existiert genug Raum dafür.

Sein: Aber ich muss mich doch manchmal sehr stark konzentrieren.

C: Richtig, während der Arbeit am Computer wird das Gefühl in den Hintergrund treten, es wird eine Ruhe da sein, eine konzentrierte Ruhe. Aber wenn zum Beispiel eine Unzufriedenheit mit dem Gang der Arbeit auftaucht, wenn ich nicht weiter komme, dann bin ich sofort bereit, das zu fühlen, was da ist, statt nur im Kopf zu bleiben und zu machen und zu machen. Es gibt fast immer Gefühle. Und unter den Gefühlen gibt es Erfahrungen, die tiefer sind als Gefühle. Das sind Erfahrungen von Stille, von Ruhe, von Frieden, von Leere, von Weite und auch von Liebe. Diese Erfahrungen verhalten sich anders als Gefühle, weil sie nicht kommen und gehen, sondern da sind. Die bleiben. In denen kann man ruhen. Gefühle wallen auf und wühlen dich auf – und dann verbrennen sie wieder. Das ist, was Gefühle machen. Die Erfahrungen, die tiefer sind, in denen schwimmst du eher, schwebst du, badest du, oder bist du selbst.

Sein: Wie sieht es bei dir selbst aus – hast du noch viel Gefühle, oder sind da eher diese ruhenden Erfahrungen?

C: Beides, weil das aufgewachte Sein ja nicht damit zu tun hat, dass die Gefühle abnehmen sollen. Der normale Mensch lebt immer in einem Zwiespalt. Er will die Gefühle nicht, ist immer in den Gedanken, und dadurch halten die Gefühle lang an, weil sie durch die Gedanken und die Geschichte immer wieder aufgekocht werden. Er fühlt sie nie ganz und dadurch ziehen sie sich lange hin.
Im erwachten Sein sind die Gefühle intensiver, aber kürzer. Sie wallen wirklich auf und sind ganz da. Doch da ist niemand mehr, der sie mit Gedanken unter Kontrolle hält und weg haben will oder verändern will. Statt dessen sind sie ganz da und dann verbrennen sie. Was bleibt, ist die Stille, in der das Gefühl auftaucht und wieder verbrennt. Bestimmte Gefühle gibt es nicht mehr, aber Gefühle an sich sind da, natürlich. Wir wollen ja nicht ein lebloses Individuum haben, das sich nicht mehr bewegen lässt von dem, was in der Welt geschieht, anrühren lässt, von dem was ist, oder das nicht mehr mit Gefühlen auf andere Menschen reagieren würde.

Sein: Es ist eben nur keiner mehr da, der das kontrolliert.

C: Keiner, der sie kontrolliert, der etwas damit machen will, der tut. Das ist der Unterschied.

Sein: Vorhin hast du gesagt, dass letztendlich vieles, was im spirituellen Bereich gelehrt wird, auf der mentalen Ebene bleibt. Kannst Du dazu noch etwas sagen?

C: Ja. Im Buddhismus ist das sehr verbreitet. Einerseits all die Meditationen, die in Form von Visualisierungen stattfinden, alle Meditationen, die sich auf Mantras oder Worte und Bilder beziehen. All das bewegt nur den mentalen Bereich und es besteht die Gefahr, dass die Menschen künstlicher werden und getrennter von den Gefühlen, als sie es vorher waren. Dann können sie zwar innerlich einen stillen Raum aufsuchen, aber diese Stille ist nicht wirklich etwas wert. Es ist tatsächlich eher so ein Entspanntsein, wie es beim autogenen Training möglich ist. Aber das hat wenig oder nichts zu tun mit der überwältigenden Stille, die du nicht aufsuchen kannst, die dich nur erfassen kann. Auf vielen spirituellen Wegen ist statt dessen ein Dissoziieren anzutreffen. Denn wenn ich mich auf die Körperempfindungen konzentriere, wenn ich meinen Atem beobachte und dadurch zur Ruhe kommen will, dann bedeutet das ja definitiv, dass ich die Gefühle beiseite gestellt habe. Ich komme dann zur Ruhe, indem ich mich auf etwas anderes konzentriere.

Sein: Konzentration ist also letztendlich der Sache nicht dienlich.

C: Ja. Zwar ist das sich Hinwenden auf das Gefühl auch eine Art von Konzentration, aber doch nicht wirklich auf etwas, sondern eher ein sich Hineinbegeben in das, was auftaucht.

Sein: Was sowieso da ist.

C: Ja. Es gibt viele Menschen, die konzentrieren sich stundenlang am Tag auf Kreuzworträtsel. Die füllen ganze Bände von Kreuzworträtseln aus. Das ist auch eine Art von Konzentration, mit der ich mich von allem anderen dissoziiere und dann natürlich entspannter fühle, als wenn ich mich den ganzen Gefühlen aussetze, die wegen der Arbeit, der Beziehung, dem Tieferen, der inneren Bodenlosigkeit auftauchen.

Sein: Was du lehrst, ist ja eigentlich eine gute Nachricht. Es fällt viel spirituelles Drumherum weg, was man alles machen muss, um zu erwachen. Die Frage ist nur: Wie kommt man an diese Gefühle heran, schließlich leben die meisten Menschen mit einem harten Panzer drumherum.

C: Da haben wir heute wirkliches Glück, weil wir nicht nur die spirituellen Wege haben, sondern auch all die Techniken, welche die therapeutischen Methoden uns zur Verfügung gestellt haben. Viele von diesen Techniken aus der Körper-, Trance- und Gestaltarbeit und vielen anderen Richtungen sind für den spirituellen Weg nutzbar. Es gibt allerdings auch viele therapeutische Methoden, die dem spirituellen Weg entgegenlaufen. Hier muss man das eine vom anderen trennen. Manches in der Therapie stärkt die Identität, die Geschichte, das „Wer bin ich?“ und „Wie soll ich mich für mich einsetzen und durchsetzen?“. Die Identifikation mit der Geschichte von gestern und der vor zwanzig Jahren stärkt diese ganze Identität und das Ich und das steht natürlich dem Aufwachen im Wege. Aber es ist völlig falsch, das Thema Therapie als Ganzes weg zu kippen, weil viele Richtungen helfen, in die eigene Mitte zu finden, seinen Gefühlen näher zu kommen, die Anspannung loszulassen usw.

Sein: Stärkt nicht auch die „Wer bin ich?“ Frage von Ramana Maharshi diesen mentalen Bereich?

C: Ramana selbst hat bei dieser Frage, die ja im indischen Raum vorher auch schon als eine Technik angewendet wurde, immer darauf hingewiesen, dass man sie nicht intellektuell zu beantworten hat. Vielmehr geht es darum, dass man die Erfahrung als Antwort auf diese Frage zu erforschen hat. Aber tatsächlich wird diese Frage „Wer bin ich?“ auch von den Suchenden oft zu mental benutzt. Wenn sie die Frage stellen: „Wer ist das, der da fühlt?“, und dann in einen Gefühlsaufruhr kommen, geschieht es oft, dass sie sich von dem Gefühl dissoziieren. Insofern kommen wir nur weiter, wenn wir dieser Frage „Wer bin ich?“ zwei andere Fragen zur Seite stellen. Das eine ist die Frage: „Was erfahre ich jetzt?“ und die zweite Frage ist: „Was will ich?“ Wenn man die drei Fragen als zusammengehörig versteht, dann ist das sozusagen wirklich der Kompass, der zur inneren und tiefen Wahrheit führt.

Sein: Wieso die Frage: „Was will ich“ ?

C: Die Frage: „Was will ich?“ ist ständig relevant. Zum Beispiel, wenn ein Gefühl auftaucht. Dann kommt: „Was will ich jetzt? Will ich mich gut fühlen? Will ich das Gefühl fühlen, damit es schnell vorbei ist? Will ich nur lebendig sein und bin deswegen bereit, auch das unangenehme Gefühl in Kauf zu nehmen?“ Da ist es schon ein wesentlicher Schritt zu merken, dass es wichtiger ist, lebendig zu sein, als sich nur gut zu fühlen. Eine weitere wichtige Frage heißt: „Will ich aufwachen?“ Viele sagen: „Ja, wenn ich das will, dann habe ich schon wieder einen Wunsch, und das steht dem Aufwachen im Wege.“ Das ist zu kurz gedacht. Denn: Um die inneren Blockierungen und die Schwierigkeiten auf dem Weg zu den Gefühlen und der inneren Erfahrung und dem, was in dem Abgrund lauert, wirklich zu begegnen, braucht es einen starken Wunsch, der mich auch „im Sturm“ nicht weglaufen lässt. Deswegen ist es gut, dass dieser Wunsch sehr, sehr stark ist. Aber es gibt eine zweite Frage, die beantwortet werden muss: „Weshalb will ich aufwachen?“.

Sein: Das ist doch eigentlich immer ein Egowunsch?

C: Nicht immer. Das ist eben der Punkt. Solange es ein Egowunsch ist, funktioniert das Aufwachen nicht. Solange man aufwachen will, damit es einem besser geht, aufwachen will um berühmt zu werden oder mehr Erfolg bei den Frauen zu haben, wird es nicht funktionieren. Wenn man jedoch aufwachen will aus dem Wunsch heraus, mit der Wahrheit überein zu stimmen, die Wahrheit zu erkennen, der Wahrheit Raum zu geben statt sich selbst, dann führt diese Sehnsucht und dieses Verlangen, aufzuwachen, zum Ziel. Das ist dann wirklich ein starker, aber ein ganz unpersönlicher Wunsch. Wenn ich zu dem Ergebnis komme, dass es mir das Wichtigste ist, die Wahrheit zu finden, zu entdecken, selbst wenn darauf „der Scheiterhaufen droht“, dann trägt das.

Sein: Das ist ein guter Gedanke. Bei mir ist es beispielsweise so, dass es meine tiefste Sehnsucht ist, bedingungslos zu lieben. Ich sehe aber, dass es auch einen anderen Teil in mir gibt, der will überhaupt nicht bedingungslos lieben. Der will sich aussuchen, was und wen er liebt. Und diese beiden Wünsche konkurrieren sehr stark.

C: Jetzt scheint es so zu sein, dass diese Frage zum ersten Mal in der Klarheit auftaucht. Also lass dir ein bisschen Zeit, sie zu erforschen, „Will ich wirklich nur, dass es mir durch das Aufwachen besser geht? Was würde es eigentlich mit mir machen, wenn ich mich innerlich dem Aufwachen völlig zuwende und dabei gleichzeitig anfange, nicht mehr wichtig zu nehmen, was für mich dabei herauskommt.“

Sein: Das ist schon haarig, diese Frage.

C: Ja, es ist haarig, aber ich glaube nur im ersten Schritt. Im zweiten Schritt schon ahnt man, dass darin eine große Freiheit liegt: Aufhören zu wollen und nicht mehr daran gebunden zu sein, ob es mir dabei jetzt gut geht oder nicht. Ich meine, das Aufwachen hat das Ergebnis, dass einem egal ist, was mit einem wird. Die Freiheit, die das erzeugt, ist so viel größer, ist so viel mehr wert und so viel befriedigender, als: „Geht es mir jetzt gut? Geht es mir jetzt gut genug? Geht es mir morgen besser? „

Sein: Ja, ich weiß. Ich kenne solche Situationen, wo ich einfach sehe: „Meinem Körper geht es schlecht, aber es ist okay“.

C: Ja.

Sein: Letztendlich: Dem Körper kann es immer gut oder schlecht gehen, das ist jenseits meiner Kontrolle.

C: Genau. Und er wird älter und wahrscheinlich kränker, wahrscheinlich wird es ihm nie mehr so gut gehen, wie zu der Zeit, als er zwanzig war.

Sein: Ja, es ist ein wunderbares Gefühl, diese Entspannung, egal, wie es mir geht.

C: Eben. Und diese Entspannung…

Sein: …das ist die einzige Freiheit, die es wirklich geben kann.

C: Genau. Und diese Entspannung ist ja nur der erste Schritt. Die Folge davon ist ein inneres, vollständiges Erfülltsein. Wenn dieses Erfülltsein erst einmal erfahren wird, dann findet man es nicht mehr wichtig, ob überhaupt noch etwas dazu kommt. Also du siehst, es ist sinnvoll, wenn man sich bewusst wird: „Wo habe ich persönliche Wünsche?“ und dann weiter fragt: „Warum habe ich sie?“. Darum ist zum Beispiel die Frage „Was will ich?“ und „Was will ich wirklich?“, viel wichtiger, als jeden Tag eine Stunde im Schneidersitz auf dem Meditationskissen zu sitzen. „Was will ich? Was sind das für Wünsche, die im Untergrund sind? Was sind das für Wünsche, die mir bewusst sind?“, das gilt es zu erforschen. „Was will ich mit dem Leben? Will ich aufwachen? Weswegen?“

Sein: Ich sehe, dass ich da noch jede Menge andere Wünsche habe wie: Ich will meinen Job gut erfüllen, ich will helfen usw..

C: Genau. Und die Haltung, die weiterhilft, ist offen und neugierig zu sein: „Was wird da wohl auf mich zukommen – von innen und von außen?“

Sein: Offen und neugierig, weil ich das, was da auf mich zukommt, sowieso nicht steuern oder kontrollieren kann.

C: Ich kann es nicht kontrollieren und vor allem bin ich niemals derjenige, der weiß, was hinterher dabei heraus kommt.

Sein: Stimmt. Trotzdem ist es schwierig, weil viele Erkenntnisse auf der mentalen Ebene hängen bleiben. Ich kann beispielsweise zwar erkennen, dass alles von selbst abläuft, dass ich es nicht kontrollieren kann, aber es nützt mir bisher nichts.

C: Aber es fängt an, dir was zu nützen, wenn du mit dieser inneren Haltung dem konkreten Gefühl im Augenblick begegnest.

Sein: Indem ich sage: „Ich kann es sowieso nicht ändern?“

C: Ich kann es nicht ändern, ich will es nicht ändern, es darf hochkommen. Ich weiß nicht, was daraus erwächst. Ich öffne mich dem, was geschieht. Ich bin derjenige, der ein bisschen neugierig, aber ganz und gar offen ist und sich dem aussetzt, was da geschieht. Bei jedem konkreten Gefühl kannst du diese Haltung entwickeln, kannst die Konsequenzen dieser Haltung erfahren, so dass diese Haltung etwas ganz anderes wird, als nur eine mentale Vorstellung. Einfach dadurch, dass du dem Gefühl jeweils auf diese Weise begegnest, wird es für dich immer mehr zu einer realen inneren bedeutungsvollen Wahrheit.

Sein: Und macht auch mehr Spaß.

C: Ja.

Sein: Weil die normale Haltung, Unangenehmes abzuwehren, das Leben ausbremst und einengt.

C: Richtig. Lebendig sein und Aufwachen hängen miteinander zusammen.

Sein: Aber es gibt viele spirituelle Schulen, die dieses Lebendigsein, im Fühlen sein überhaupt nicht erwähnen.

C: Richtig. Und dann gibt es auf der anderen Seite spirituelle Richtungen, die sagen: „Wenn ich nur lebendig genug bin und alles lebe, was da gerade hochkommt, dann wird das reichen“. Das ist auch nicht richtig. Richtig ist es, alles zu fühlen und immer stiller zu werden gegenüber den Impulsen. Aber die meisten spirituellen Wege sind eher die, die das überhaupt nicht erwähnen, die überhaupt keinen Zugang und Umgang damit haben. Da gibt es spirituelle Lehrer, die sagen: „Wenn solche Gefühle hoch kommen, dann muss jemand vielleicht mal eine Zeit lang in Therapie gehen.“ Aber dass die Gefühle selbst der Weg der spirituellen Transformation sind, das ist tatsächlich nahezu unverstanden.

Sein: Und die andere Richtung sagt, du sollst sie völlig ausleben.

C: Genau.

Sein: Aber das unterscheidet sich zu deinem Ansatz, bei dem es darum geht, letztendlich ein Gefäß für diese Gefühle zu sein.

C: Richtig. Letztendlich geht es darum, völlig unabhängig gegenüber den Gefühlen zu werden. Innerlich ganz souverän dadurch zu werden, dass ich mit den Gefühlen nichts machen muss, aber wenn ich es denn will, etwas machen kann. Man ist nicht gezwungen, das Gefühl nur innerlich zu fühlen und nicht zu handeln, aber man ist dann frei, zu wählen. „Will ich etwas tun oder will ich nichts tun? Verursacht es Leid, wenn ich etwas tue?“
Was ich noch untergebracht wissen möchte, ist die Entdeckung, dass es wirklich lohnt, sich auf den Weg zum Aufwachen zu begeben; dass immer mehr Menschen tatsächlich aufwachen. Dass der Weg tatsächlich immer häufiger erfolgreich ist. Das ist eine Veränderung zu der Zeit vor zwanzig Jahren, wo man weit mit dem Flugzeug fliegen musste, um einen aufgewachten Menschen überhaupt nur aus der Ferne sehen zu können. Jetzt trifft man sie in der Stadt, sieht sie auf Video, man kann mit ihnen reden. Das ist wirklich beeindruckend. Faszinierend.

Sein: Es gibt ja mittlerweile eine ganze Menge Satsang-Lehrer. Und dann gibt es eben auch große „Gurus“ wie Ramana oder Poonjajii. Gibt es da einen Unterschied in der Präsenz, Kraft und Klarheit?

C: Ja, absolut. Die wesentliche Unterschied ist der: Man kann heute aufwachen und die Unendlichkeit erfahren, manchmal durch ein plötzliches inneres Gewahrsein, ohne durch diesen inneren Abgrund und das schwarze Loch gegangen zu sein. Ohne sich mit der Bereitschaft, zu sterben auseinander gesetzt zu haben, ohne durch diese Schicht des Todes und der Leere und auch der Angst vor der Leere und dem Ausgelöschtsein gegangen zu sein. Dann ist das aufgewachte Dasein nicht von Dauer und auch nicht tief genug. Wenn das Aufwachen durch so ein plötzliches Gewahrsein geschieht, dann muss es sich sowieso danach vertiefen. Die Tiefe das Aufwachens hängt auch davon ab, ob jemand nach dem Aufwachen bereit ist, sich der weiteren Tiefe der Wahrheit zu öffnen und sich immer tiefer auf die Wahrheit einzulassen. Und speziell, entweder vor oder sonst nach dem Aufwachen, sich diesem inneren Abgrund, diesem inneren schwarzen Loch und dem Tod zu stellen. Oft wird da, auch wieder durch mentale Konzepte wie: „Der Tod ist nichts Wirkliches, also brauche ich keine Angst davor zu haben“, Angst abgewehrt und nicht wahrgenommen. Damit spielt man sich einen Streich.

Sein: Weil letztlich die Angst eben nichts Mentales ist, sondern etwas, was tief in unseren Zellen sitzt.

C: Genau. Wo man erst, wenn man sie beendet hat, weiß: „Oh, sie ist nicht wirklich.“ Klar, auch die Angst im Albtraum ist nicht wirklich, aber das schweißgebadete Aufwachen und die Erfahrung der Angst sind es. Wenn ich dann sage: „Oh, sie ist nicht wirklich – ich brauche sie nicht zu fühlen“, dann spalte ich mich ab. Egal, ob sie wirklich ist – das Gefühl ist da. Dem muss ich begegnen. Und der Angst vor dem Tod natürlich umso mehr.

Sein: Das kann ich bestätigen. Aussagen wie: „Ist alles nur ein Film“ nützen nichts.

C: Überhaupt nichts. Diese Konzepte spalten von der inneren Erfahrung, dem inneren Fühlen und der inneren Wirklichkeit ab und verarmen den Menschen, weil er an Lebendigkeit einbüßt.

Sein: Es könnte höchstens so etwas passieren wie eine L-m-A-Haltung.

C: Und die hilft niemandem.

Sein: Wie sieht es mit Wut aus? Sie ist ja eigentlich ein Projektionsgefühl.

C: Wut spielt eine ganz zentrale Rolle auf dem Weg. Der Gestalttherapeut Fritz Perls hat 1950 gesagt, es habe zwei Tabus gegeben: die Sexualität und die Aggressivität. Freud habe das erste Tabu enttabuisiert und jetzt käme es darauf an, die Wut zu enttabuisieren und nicht nur ihre destruktive Seite, sondern auch ihre positive Seite zu sehen. Für fast alle Therapeuten, vor allem der humanistischen Therapierichtungen, ist Wut in der Regel das Zentrum der Arbeit. Aber das greift zu kurz. Aus folgendem Grunde: Jede Wut hat eine Grundlage, und die Grundlage ist die Verletzung und der Schmerz. Wenn jetzt das Erleben der Wut dazu benutzt wird, den Schmerz nicht zu fühlen, die Verletzung nicht zu fühlen, und sich in der Lebendigkeit der Wut wohl zu fühlen, dann wird der Weg zu wirklicher Heilung versperrt und vor allem der Weg zur spirituellen Veränderung. Worauf es ankommt, ist die Wut ganz zu fühlen, also wieder auf gar keinen Fall zu unterdrücken, aber sie nicht zwanghaft auszuagieren, sondern die ganze Energie in sich toben, in sich aufwallen zu lassen und dadurch innerlich immer weicher zu werden – sich dann dem ganzen Schmerz der Verletzung zuzuwenden und ihn zu fühlen.

Sein: …einfach zu fühlen, was hochkommt und nichts damit zu machen.

C: Ja, genau. Früher war es die Methode der Wahl, bei Wut mit den Händen oder sogar mit dem Tennisschläger auf ein Kissen zu schlagen und über diesen Ausdruck zu einer körperlichen Lösung zu kommen. Man kann aber entdecken, dass mehr geschieht, wenn ich körperlich die ganze Wut fühle und nicht zum Ausdruck bringe. Allerdings setzt das voraus, dass der Körper nicht mehr blockiert ist. Um die Blockierung zu lösen, ist auch der Ausdruck der Wut als Hilfsmittel wertvoll. Aber der Königsweg ist, die ganze Wut im Körper zu fühlen und in sich verbrennen zu lassen.

Sein: So dass die Energie letztendlich nach innen durchbricht.

C: Genau. Es geht darum, bei jeder Wut offen dafür zu sein, auch den Schmerz zu fühlen, der unter der Wut ist. Denn es ist ja ganz klar, dass Wut nicht wirklich die Lösung hervorruft, weil Wut immer noch die Haltung ist: „Ich hätte gerne“ oder sogar „Ich bestehe darauf, dass es anders ist, als es ist.“

Sein: …das Du sollte sich anders verhalten.

C: Ja. Vor allem auch die Figuren in der Vergangenheit. Erst wenn der Schmerz gefühlt wird, komme ich zu der Haltung: „Ja, es durfte so sein, auch wenn es schlimm war“ oder „es darf so sein, auch wenn es schlimm ist.“. Schmerz ist das Gefühl, das wirklich löst. Die Wut löst nur scheinbar. Sie führt nur zu einem augenblicklichen sich lebendig Fühlen, aber nicht zu einer wirklichen Lösung des Themas.

Sein: Verabschiedet sich die Wut als Gefühl dann irgendwann?

C: Es ist nicht so, dass man nicht wütend sein darf. Aber man muss nicht mehr diese Energie nach draußen bringen. Das ist der Unterschied. Wenn es konkret darum geht, sich abzugrenzen, Verletzung zurückzuweisen, dann ist durchaus auch eine spontane Antwort in einer Situation gefragt. Die Arbeit mit den Gefühlen soll wirkliche Spontaneität ja fördern. Aber nicht die Impulsivität. Oft wird Impulsivität – „Ich tue das, was mir gerade mein Bauch sagt“ mit Spontaneität verwechselt.

Sein: Bist du noch verletzbar? Oder hat sich bei dir Verletzbarkeit in Berührbarkeit verwandelt.

C: Es gibt Schmerz, es gibt Trauer, Mitgefühl und das, was du schön mit dem Wort Berührbarkeit genannt hast, aber Verletzung in irgendeiner persönlichen Form, die gibt es nicht mehr.

Sein: Wenn ich jetzt beleidigend würde, und von Dir käme spontan Wut darüber auf, dann würde ich davon ausgehen, dass ich dich irgendwo erwischt habe, wo du verletzbar bist. Denn sonst müsstest du ja letztendlich meinen Angriff gar nicht zurückweisen.

C: Weißt du, vielleicht gibt es einfach Fragen, die nicht durch eine knappe definitive Antwort von ja oder nein beantwortet werden können. Es gibt ganz sicher Verletzung. Es wird ja Schmerz gefühlt, zum Beispiel sehr stark über die zunehmende Armut. Auch die Empörung über diesen ungeheuren gesellschaftlichen Reichtum, der viele Menschen ausschließt. Diese Empörung und der Schmerz sind gewaltig. Ist das nur Berührtheit, oder ist das auch ein Spüren der Verletzung, die dadurch geschieht? Ist die spontane, sagen wir jetzt mal energische, ungeduldige, wütende, zornige, ärgerliche Zurückweisung einer Verletzung ein Angriff ? Ich vermag das nicht zu sagen. Es ist zum Beispiel so, dass dann, wenn hier im Satsang vierzig Leute sitzen und einer die Stille stört, die Möglichkeit für die anderen behindert wird, tiefer zu gehen. Wenn ich dann zum Beispiel energisch oder auch mal wütend reagiere, dann bin ich persönlich weniger auf die Stille der Situation angewiesen, als die anderen Menschen. Das Wütendsein ist dann unpersönlich.

Sein: Vielleicht kommt es einfach auf die Ebene an, von der man die Welt betrachtet: Von der Ebene des Kronenchakras sozusagen oder des dritten Auges, da sehe ich: „Alles ist okay, wie es ist.“ Aber aus dem Herzen sehend fühle ich einfach den Schmerz, und da ist dann Mitgefühl da.

C: Vollkommen richtig. Wenn man die eigene Geschichte betrachtet oder die Geschichte von einem Menschen, der aufgewacht ist und als Kind misshandelt wurde, können wir dann nicht im Nachhinein sagen: „Es hat ihm zum Aufwachen geholfen“, und im Nachhinein war es daher gut? Aber wenn wir erleben, wie ein Kind misshandelt wird, dann reagieren wir nicht mit diesem Konzept: „Alles ist gut“, sondern mit der Berührtheit, mit dem Mitgefühl, mit der Empörung und sind gerufen, einzugreifen.

Sein: Es heißt eben nicht, über den Dingen stehen.

C: Nein. Es ist eher ein: „Ich nehme – beispielsweise – den Krieg und die Armut an, aber ich nehme gleichzeitig auch den Schmerz und die Empörung darüber an. Ich bin gelassen und gleichmütig gegenüber dem Schmerz. Ich bin nicht sauer darüber, dass ich dieses Mitgefühl haben muss, sondern ich akzeptiere diesen Schmerz.“ Das ist echter Gleichmut. Der ist natürlich auch getragen von dem letztendlichen Nichtwissen, warum etwas ist und wofür es ist und wie es ist.

Sein: Immer wieder läuft es aufs Gleiche hinaus: Annehmen, was ist…

C: Die Menschen tun so viel, um den Schmerz und die Angst abzuwehren. Das Missverständnis besteht darin, dass sie glauben, dass der Schmerz und die Angst das Leben schlimm machen. Aber es ist umgekehrt. Das Wegschieben und das Weglaufen von der Angst und dem Schmerz ruft den Albtraum erst hervor. Wenn ich bereit bin, den ganzen Schmerz anzunehmen und auch die ganze Angst, solange sie da ist, dann hört der Albtraum auf, und zwar noch bevor der Schmerz und die Angst aufgehört haben.

Sein: Kann die Liebe nicht erst dann kommen, wenn die Angst beendet ist?

C: Nein, die kommt schon vorher. Natürlich ist es leicht, liebevoll zu handeln, wenn keine Angst mehr da ist. Doch gerade dann, wenn du bereit ist, trotz der Angst das Richtige zu tun, dann ist das von Liebe getragen. Und dann zeigt die Liebe vielleicht sogar ihre größere Schönheit.

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