Der Prozess des Aufwachens
Interview Juli 2003 mit Christian Meyer
Interviewerin: Karin Mager
F: : Christian, du richtest ja immer wieder den Focus darauf, dass es darum geht, aufzuwachen. Was meinst du damit?
C: Aufwachen ist eine andere Art des Seins. Wenn das Aufwachen stattfindet, dann gibt es so etwas wie eine Gewissheit, wie ein Erkennen, dass das Leben vor dem Aufwachen nur eine Imitation des Lebens war. Dass vorher ein Schlaf war, ein Schlafwandeln gewissermaßen.
F: Aus dem Schlaf aufwachen, ist sicher noch nicht klar genug. Wie würdest du es Leuten, die sich mit spirituellen Themen nicht befasst haben, aber vielleicht offen dafür sind – die du gewissermaßen für diesen Gedanken „Aufwachen“ gewinnen willst – wie würdest du es ihnen erklären?
C: Ich glaube, es ist fast besser, wenn du nur von dir ausgehst. Wahrscheinlich werde ich 99,5 % der Menschen nichts davon erklären können. Meister Eckhart sagt: „Sei nicht besorgt, wenn du mein Reden nicht verstehst. Solange du nicht über die Erfahrung verfügst, wirst du davon nichts verstehen“.
F: Ja, das stimmt, das ist vielleicht eine ganz gute Idee, jetzt einfach von meinem Verständnis her zu fragen.
Aufwachen, hast du gesagt, ist eine andere Art von Sein. Und Aufwachen beinhaltet, dass ich die Welt wahrscheinlich auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrnehme, oder? Kann man das so sagen?
C: Ja.
F: Was wäre denn wirklich anders in meinem Leben, wenn ich jetzt aufgewacht wäre? Ich meine, was passiert, wenn ich aufwache? Vielleicht kannst du es anhand deiner eigenen Erfahrung beschreiben.
C: Was passiert, wenn du aufwachst ist, dass der Verstand anhält. Wenn der Verstand anhält, dann tritt innerlich eine Ruhe und ein Frieden ein, der vorher nicht gekannt wurde.
F: Also, das Plappern in meinem Denken hört auf.
C: Ja, das Plappern in deinem Denken hört auf. Der Verstand wird nur benutzt, wenn es nötig ist und die erlebte Stille des Verstandes hat zur Folge, dass der Frieden gefühlt und erfahren wird, der die ganze Zeit vorher auch schon da war. Neben der Erfahrung dieses Friedens und dieser inneren Stille, gibt es die Erfahrung von Zeitlosigkeit und die Erfahrung der Grenzenlosigkeit. Alles zusammengenommen führt zur Erfahrung von Glückseligkeit, die keine Ähnlichkeit hat mit dem, was früher für Glücksgefühle da waren.
F: Kannst du es noch ein bisschen genauer beschreiben für jemanden, der es selbst nicht erlebt hat? Wenn das Plappern des Verstandes aufhört, was ist dann da? Wenn du z.B. jetzt in der Runde mit uns zusammensitzt, was geht dann in dir vor?
C: Nichts.
F: Dann sitzt du da und spürst die Glückseligkeit. Wie fühlt sich das für dich an?
C: Glückseligkeit kommt und geht und der Frieden ist die ganze Zeit da. Die Worte formen sich selber und werden gesprochen, ohne dass ich daran beteiligt bin. Da ist kein Ich, das daran beteiligt ist. Ich bin gewissermaßen genauso überrascht über die Worte, die ich jetzt sage, wie du.
F: Auch jetzt?
C: Vielleicht nicht ganz so überrascht, weil ich sie häufiger höre, als du sie hörst. Aber sie kommen für mich gewissermaßen genauso neu und genauso für mich als Zuhörenden, wie für dich.
F: Du bist dann eher in dem Mitschwingen mit dem, was jetzt auf dich zukommt.
C: Nicht im Mitschwingen. Versuch keine Analogie zu ziehen zum normalen, bewussten und aufmerksamen Umgehen. Es ist etwas anderes.
F: Gibt es da unterschiedliche Zeiten für dich oder Phasen, wo du merkst, jetzt kommt der Verstand doch oder ist das durchgängig dann so?
C: Es gibt unterschiedliche Zeiten; die Zeit des vollkommenen Alleinseins in der häufiger Ekstase und Glückseligkeit auftauchen. Beim Zusammensein mit anderen sind immer auch die Bedürfnisse der anderen da.
F: Ist das so, dass du dich dann von anderen Menschen mehr in Anspruch genommen fühlst? Du reagierst dann häufiger auf andere?
C: Die Reaktionen geschehen von alleine, und es kann auch Freude und Spaß machen. Dennoch ist die Zeit des Alleinseins die, wo die Stille am tiefsten ist.
F: Die Stille ist ja wahrscheinlich ein toller Zustand.
C: Das stimmt. Das ist sehr vorsichtig ausgedrückt. Wenn es eine Droge gäbe, mit der die Erfahrung dieses Seins erreichbar wäre, für diese Droge würden Menschen mehr bezahlen als für irgendetwas sonst. Sie würden ihr ganzes Hab und Gut für diese Droge hergeben.
F: So fühlst du, wenn du alleine bist?
C: Nicht nur. Die Ekstase, die Glückseligkeit kommt und geht. Der Frieden bleibt. Das sind zwei verschiedene Qualitäten. Der Frieden, die Stille bleiben; aber die Ekstase, die Glückseligkeit, die stellt sich mal mehr und mal weniger ein. Das ist unterschiedlich und sie kann auch im Zusammensein mit anderen Menschen da sein. Aber sie ist häufiger im Alleinsein erfahrbar.
F: Ist es dann nicht anstrengend mit anderen Menschen zusammen? Ist da nicht ein Wunsch in dir, lieber alleine zu sein?
C: Ich erlebe das nicht als Wunsch: „Oh, ich möchte gerne mehr davon oder mehr davon.“ Es scheint so, dass es sich ausbalanciert. Es scheint so, dass ich mit anderen zusammen bin, momentan mehr arbeite, als ich gerne möchte, aber im Prinzip – Alleinsein ist dann da, wenn es da ist.
F: Und dieser Zustand – hast du den plötzlich erlebt? War das Aufwachen plötzlich?
C: Ja, definitiv plötzlich um 11.10 Uhr bis 11.30 Uhr an einem bestimmten Tag – so plötzlich.
F: Magst du ein bisschen erzählen, wie du dahin gekommen bist?
C: Ja, alle aufgewachten Menschen, die ich gesprochen habe und auch von denen ich gelesen habe, beschreiben das Aufwachen als ein plötzliches, in einem bestimmten Moment stattfindendes, geschehendes Erleben, Erfahren. Die Worte sind alle etwas unzutreffend. Ja, ich kann beschreiben, was ich erfahren habe. Im Wesentlichen war es die Erfahrung eines Fallens, eines inneren Fallens, eines seelischen Fallens in einer Dunkelheit und in einer Enge.
F: Was hast du unmittelbar davor gemacht?
C: Es war am Ende eines zweiwöchigen Retreats bei meinem Lehrer Eli.
F: Hattest du dich schon länger mit ihm zusammen mit der Thematik beschäftigt?
C: Ja, drei Monate.
F: Du warst drei Monate bei Eli?
C: Na ja, einmal eine Woche und einmal zwei Wochen innerhalb dieser drei Monate.
F: Und dann am Ende eines zweiwöchigen Retreats – was war da, was ist da passiert? Warst du da allein?
C: Ja, ich war allein. Ich hatte mich auf die Veranda gesetzt.
F: Hast du dich Gedanken hingegeben in Bezug auf Aufwachen wollen oder Übungen gemacht?
C: In den zwei Wochen zuvor habe ich mir Gedanken über das Aufwachen gemacht, weil ich mit meinem Lehrer zusammen war. Was sonst sollte man da tun?
F: Du stecktest also in dieser Thematik?
C: Natürlich.
F: Hast du bestimmte Übungen gemacht?
C: Nein, es gibt keine Übungen.
F: Du hast einfach nur da gesessen und dann hast du gespürt, da ist plötzlich ..
C: Ja. In dem Retreat gab es zuvor eine Übung, wo das innere Loslassen, das innere Fallenlassen, das tiefer Fallen in einer Zweierübung praktiziert wurde, in der die beiden sich gegenseitig darin unterstützten. Das innere Loslassen und Fallen ist ein Üben von Nicht-Tun, das Üben von Nicht-Eingreifen. Unter Üben verstehen wir normalerweise etwas von einer Fähigkeit entwickeln, z. B. eine Sprache erlernen oder einen Kochkurs machen, um dann bessere Gerichte zu kochen. Hier geht es nicht darum, etwas zu lernen sondern anzuhalten, mit etwas aufzuhören. Auch ein Alkoholiker kann nicht üben, nicht zu trinken. Er kann nur aufhören zu trinken.
F: Also aufhören, sich Gedanken hinzugeben.
C: Ja. Und mehr noch als das. Man muss bereit sein, das zu fühlen, was da ist, ohne einzugreifen. In dem Moment des Fallens in die Unendlichkeit tauchen jede Menge Impulse auf von Angst, von Unheimlichkeit. Der Atem verändert sich, Angst zu ersticken taucht auf. Bei Menschen, mit denen ich arbeite, erlebt man das öfter.
In dem Moment musst du bereit sein, zu fallen, ohne diesen Impulsen nachzugeben. Mit der Bereitwilligkeit, sich nicht zu bewegen, erlebt man dieses Fallen als einen unwiderstehlichen Sog in die Tiefe. Wenn man dieses Fallen weiter und weiter zulässt, dann hört diese Enge plötzlich auf. Dann hört auch die Dunkelheit plötzlich auf, ohne dass man sagen kann, es ist ein Licht. Es wird hell, aber selbst hell und dunkel hören auf. Und dann wird das Fallen zu einem Schweben, zu einem Fliegen – und plötzlich kehrt sich auch das um, weil alles aufhört. Du erfährst dich als diesen ganzen Raum, in den du hinein gefallen bist. Gleichzeitig entdeckst du, dass du nichts bist und da nichts fallen kann und gleichzeitig bist du alles, weil du der ganze Raum bist, in den du hinein gefallen bist und dieser Raum hat keine Grenze. Das lässt den Verstand sofort in einem Moment still sein. Das bringt diese ganze psychische Struktur von: „Ich will, ich muss, ich muss aufpassen, was denke ich dazu, wie kann ich das erklären“ einfach zum Stoppen. Das verändert die Wahrnehmung – auch des Materiellen – vollkommen.
F: Inwiefern?
C: Seit Jahrhunderten sagen die Aufgewachten, dass es mit Worten nicht zu beschreiben ist und versuchen es dann mit Bildern und Metaphern. Letztendlich stimmt es, dass die Sprache nicht ausreicht, um das zu beschreiben, aber es sind solche Phänomene, dass die scheinbar feste Materie ihre Festigkeit verliert. Ganz deutlich ist die Wahrnehmung von Zeitlosigkeit. Es wird so erfahren, dass alles aus einer Stille entsteht und diese Stille sich dadurch, dass es entsteht, in keiner Weise als Stille verändert. Dieser Frieden und diese Stille entsprechen dem, was ewig genannt wird.
F: Es ist jedenfalls eine Wahrnehmung des Seins, die für uns in unserem üblichen Space ganz anders ist.
C: Richtig.
F: Das ist mir nicht unbekannt. Das haben andere auch schon so versucht zu beschreiben. Ich kann es einfach nur stehen lassen. Ich habe mal ein LSD-Erlebnis gehabt und daher weiß ich, dass die Wahrnehmung der Materie nicht mehr so fest gefügt erscheint.
C: Einzelne Aspekte können bei Menschen, die LSD in einer geringen Dosis nehmen, auftauchen.
F: Mich würde interessieren, hast du vorher längere Zeit Übungen oder irgendetwas Ähnliches gemacht? Ich denke es gibt Gründe, warum du da aufgewacht bist, außer dass Eli vielleicht so eine starke Ausstrahlung hatte.
C: Nein. Es ist die Übung des Anhaltens, das zu fühlen, was da ist, aufzuhören, irgendwie darauf zu reagieren und darin involviert zu sein. Das ist alles.
F: Fühlen, was da ist mit dem, was um dich herum passiert.
C: Nein, was in dir ist, was in dir auftaucht. Gefühle, die in dir auftauchen.
F: Die zu fühlen und ..
C: still zu sein ..
F: und keine Widerstände zu entwickeln.
C: Nicht nur keine Widerstände, sondern auch nichts damit zu machen. Es taucht ein Gefühl auf von Schmerz oder Freude und du hörst auf, irgendetwas zu erklären, irgendetwas zu denken, irgendwas damit zu tun. Du bist nur Freude oder Schmerz. Das ist, was einen immer tiefer fallen lässt. Sonst nichts. Einfach anhalten.
F: Hört sich so einfach an.
C: So einfach ist es.
F: Ich weiß ja, dass es trotzdem schwierig ist.
C: Es ist nicht schwierig, es ist nicht leicht, aber es ist einfach.
F: Es ist für viele Menschen nicht so leicht machbar, sonst würden ja viel mehr aufwachen. Es sind ja einige in deinen Gruppen, die gerne aufwachen würden und trotzdem passiert es doch eher selten, oder? Ich möchte das ja zum Beispiel gern erreichen, aber ..
C: Nein, du möchtest nicht.
F: Das kann man eben nicht so auseinander halten.
C: Doch. Wenn nur noch der Wunsch aufzuwachen da ist und kein anderer mehr, dann geschieht es sofort. Das ist keine neue Entdeckung, die ist ein paar tausend Jahre alt. Die Upanishaden sagen: Wenn jemand so sehr die Wahrheit verlangt, wie jemand, der unter Wasser ist, nach Sauerstoff ringt, der wird in derselben Sekunde die Wahrheit finden und aufwachen.
F: Meinst du, dass das bei dir der Fall war, dass du gar keine anderen Bestrebungen mehr in dir gefühlt hast?
C: Ja.
F: Es ist vielleicht auch Gnade, an dem Punkt zu sein.
C: Das ganze ist Gnade, aber nicht eine Gnade, die man sich verdient hat. Man kann sie nicht verdienen.
F: In vielen spirituellen Lehren, im Zen zum Beispiel, muss man lange, oft über Jahre meditieren, Übungen machen oder Mantren singen. Bei dem, was du hier sagst, muss man gar nichts vorher machen außer den innigen Wunsch haben, aufzuwachen.
C: Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Es gibt dieses Bild, dass der eine wie nasses Holz sei, das sich langsam entzündet. Jemand anderes ist trockenes Holz und entzündet sich viel schneller. Ein Dritter ist vielleicht wie Schießpulver. Du hattest die Frage gestellt: „Kann man etwas tun?“ Ich sage, ja, man kann etwas tun.
Du kannst zu der inneren Haltung des Nichttuns finden und die Fähigkeit entwickeln, still zu sein gegenüber den Gefühlen. Du kannst den Gefühlen vollkommen Raum geben und musst nicht eingreifen. Das ist etwas, was man üben kann. Es ist die Praxis vom Nicht-Tun. Das ist, was man 24 Stunden am Tag praktizieren kann.
F: Kannst du das noch ein bisschen konkreter sagen.
C: Das ist sehr konkret. Es taucht Freude auf und du tust nichts damit. Es taucht Langeweile auf und du spürst diese nagende Unruhe und machst nichts.
F: Gut, dann würde ich sagen, das mache ich doch schon so.
C: Das ist nicht richtig.
F: Nein, ich frage es provokativ.
C: Deine Schwierigkeit ist, das Gefühl, das nichts Besonderes ist, so ernst zu nehmen und so wahr zu nehmen, dass du dabei bleibst. Dann verbrennt das Gefühl und du kommst tiefer und dann kannst du finden, was unter dem Gefühl ist. Du nimmst ein Gefühl wahr, nach einiger Zeit wird es langweilig und es ist nichts Besonderes und dann gehst du weiter zu irgendwelchen Gedanken, zum inneren Zeitungslesen. Stattdessen besteht die Aufgabe darin, in dem Gefühl zu bleiben, ohne weg zu gehen. Dann verbrennt das Gefühl und dann taucht das auf, was unter dem Gefühl ist – vielleicht Angst beim Fallen in diese Bodenlosigkeit, in diese buchstäbliche Bodenlosigkeit. Und nach der Angst taucht vielleicht Ruhe auf. Unter den Gefühlsschichten, die im Moment da sind, ist auf jeden Fall Ruhe und Frieden. Um diesen Frieden geht es, nicht um den Frieden in der Meditation, wo alles beiseite geschoben wird. Das hilft nicht weiter.
F: Also eher mit voller Aufmerksamkeit bei den Empfindungen bleiben. Kann man dafür auch Empfindungen sagen?
C: Empfindungen sind eher Körperempfindungen, bei denen lohnt es sich nicht zu bleiben, sondern bei dem Gefühl und bei den Erfahrungen wie Stille, Ruhe und Frieden, die so eine ähnliche Qualität wie Gefühle haben.
F: Wenn ich jetzt keine besonders aufwühlenden Gefühle habe, ist es ja leichter, da zu bleiben. Das ist meine Erfahrung. Wenn ich Ärger spüre, dann kann ich da gut bleiben, weil ich deutlich etwas in mir spüre.
C: Aber du kannst die Fähigkeit entwickeln, im Ärger zu bleiben, ohne dir Gedanken zu machen.
F: Okay, selbst das kann man lernen. Nur dann kommt schnell der Punkt, an dem gar kein Gefühl mehr da ist.
C: Ja, das verbrennt, jedes Gefühl verbrennt. Gefühle dauern nicht länger als zwei Minuten. Und was ist dann?
F: Darum geht es? In diesem friedvollen Zustand zu bleiben, ohne sich zu sagen: „Es ist doch nichts da.“ oder „Es ist langweilig.“?
C: Richtig. Dann kannst du diesen Frieden, der auftaucht, untersuchen. Und dann fällst du in diesen Frieden hinein. Spätestens dann wird dir plötzlich unheimlich, weil da nichts mehr ist, an dem du dich festhalten kannst. Dann musst du dich diesem Unheimlichen aussetzen und diesem Unheimlichen begegnen, musst diese Angst fühlen, die darin steckt und immer noch nicht weg gehen. Sie verändert den Atem, sie verändert den Körper, sie verändert deine innere Situation. Und dann verbrennt auch diese Angst. Weil jedes Gefühl, was unberührt bleibt, in zwei oder drei Minuten verbrennt. Und dann bist du tiefer als diese Angst. Wer weiß. Und vielleicht reicht das aus so tief zu fallen, dass du plötzlich in der Bodenlosigkeit verschwindest, in diesem Abgrund.
F: Also das heißt auf jeden Fall still zu bleiben, einfach nichts zu machen, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und zu versuchen, Gedanken immer wieder loszulassen…
C:…indem du deine Aufmerksamkeit vollkommen auf die Erfahrung des Gefühls richtest.
F: Kann man für das Wort Gefühl nicht etwas anderes nehmen, z. B. Erfahrung des Seins? Bei Gefühl bin ich mehr irritiert, weil ich denke, da muss irgendetwas sein. Gefühl benutzt man ja landläufig für die Emotionen. Ich verstehe dich eher so, als wenn du damit diesen inneren friedvollen Zustand meinst, der auftaucht.
C: Wir waren doch gerade dabei, dass Schmerz auftaucht und dann Frieden.
F: Bei mir taucht gar kein Schmerz auf, auch keine Angst. Aber aus der Meditation kenne ich dieses Empfinden von da sein und da ist dann gar nichts weiter mehr. Das kann ich schon nachvollziehen, dass es gut wäre, in diesem Zustand zu bleiben.
C: Egal, was da ist. Egal, ob es eine aufwallende Emotion ist oder gerade nur eine Leere – immer da zu bleiben in dem, was du erfährst, dem Gefühl oder dieser Erfahrung, die tiefer ist als ein Gefühl.
F: Und dann zu schauen, wie es sich anfühlt, wenn ich wirklich dabei bleibe ohne aufzustehen.
C: Du musst nicht unbedingt dabei sitzen – wenn du spazieren gehst und dabei in die Tiefe fällst oder..
F: Ja, das kann schon passieren, aber das könnte ich mir für mich nicht vorstellen, weil ich dann immer abgelenkt wäre.
C: Nein, nein. Du wirst dann abgelenkt, wenn da nicht die Bereitwilligkeit ist, in die Tiefe zu kommen. Wenn die Bereitwilligkeit da ist und das absolute Verlangen danach, dann gibt es nichts, was dich ablenkt. Das ist das Entscheidende.
F: Gibt es denn von den äußeren Lebensumständen her Dinge, die man noch tun kann, um die Bereitwilligkeit und dieses innere Verlangen zu stärken?
C: Nein. Du kannst eines tun: das Leben angucken, so wie es ist. Ehrlicher angucken, so wie es ist. Das hilft. Die meisten Menschen haben ihre Sehnsucht längst auf irgendwelche Ersatzobjekte gerichtet, auf die Segeljacht oder das Zwergkaninchen, haben längst alles an Fragen und Wünschen an das Leben unter tausend faulen Kompromissen begraben und fühlen sich in diesem Trott, in der Routine dieses Daseins mehr recht und schlecht eingerichtet.
F: Ja, weil sie ja auch nicht die Idee haben, dass es darüber hinaus etwas gibt wie Aufwachen.
C: Ja, die Menschen haben Gott von dieser Erde verbannt und es wird kein Angebot mehr gemacht für die Jugendlichen, für die jungen Erwachsenen, für die Menschen. Ein Angebot an innerer Suche. Die Kirchen haben in der Richtung auch versagt. Vielleicht ändert sich da langsam ein bisschen, aber sehr langsam, sehr wenig.
F: Nicht die Kirchen haben versagt, sondern die Leute, die in der Kirche aktiv sind, haben keine Idee vom Aufwachen.
C: Stimmt. Das ist das Versagen.
F: Das ist eine ganz andere Ausrichtung. Klar, die Menschen reden von Gott. Aber für sie ist Gott mit etwas ganz anderem verbunden als damit, dass du selbst innere Erfahrungen machen kannst.
C: Seit der Reformation und seit der Aufklärung wurde in den Kirchen dieses Thema immer mehr verdrängt.
F: Meinst du, es war vorher mehr da?
C: Ja, natürlich. Luther hat alle Klöster abgeschafft.
F: Ja, aber was war in den Klöstern vorher?
C: Meister Eckart. Meister Eckart hatte hunderte von Schülern und Dutzende von erwachten Schülern. Johannes Tauler war ein später selig gesprochener erwachter Lehrer, ein Schüler von Meister Eckart. Ignatius von Loyola war ein erwachter Lehrer, der den Orden der Jesuiten gegründet hat, um systematisch andere darin zu unterstützen, die den Weg gehen wollten, aufzuwachen. Da fand sehr viel statt. Durch die Reformation und durch die Glaubenskriege wurde von der offiziellen Kirche und von vielen sonst das Mystische, das vorher da war, mehr und mehr zurückgedrängt. Andere Religionen haben ihre spirituelle oder esoterische Richtung viel lebendiger gehalten – bei den Juden die Kabbala, beim Islam die Sufis, im Hinduismus die Yogis und alle die, die nach Befreiung suchen – als das Christentum. Die Reformation und die anschließende Auseinandersetzung darüber – die Glaubenskriege – haben wesentlich dazu beigetragen, die Mystik aus dem Christentum zu verdrängen und zu verbannen. Und später hat die Aufklärung ein Weiteres dazu getan.
F: Hast du dich damit mehr befasst?
C: Ja. Insbesondere mit der christlichen Mystik, die ich sehr spannend finde.
F: Noch eine andere Frage. Dass du bei Eli warst, habe ich schon gehört. Gab es noch etwas, was du gemacht hast? Du meinst, dass deine Teilnahme an Elis Gruppe ein ganz wesentlicher Anstoß war?
C: Ja.
F: Auch dass in diesen zwei Wochen dein Wille so stark wurde, oder war das vorher schon?
C: Das war sicher vorher. Das erste, was ich in der ersten Woche von Eli gehört habe war, dass es nur eine Trance ist, zu glauben, dass das Aufwachen erst im nächsten Leben oder weit vor dir liegt. Solange man das glaubt, hat das die Tendenz, sich im Geist zu manifestieren.
F: Das hat zur Folge, dass man sich nicht mit ganzer Kraft darauf ausrichtet.
C: Mehr als das. Aufwachen bedeutet nur, dass Gedanken im Kopf beendet werden. Gedanken im Kopf beenden dauert eine Sekunde. Wenn du siehst, dass der Weihnachtsmann die Schuhe und den Bart vom Onkel Fritz hat, dann weißt du, es gibt den Weihnachtsmann nicht. Das erkennst du in einer Sekunde. Da brauchst du nicht wochenlang zu üben. Du weißt es plötzlich. Das heißt, bestimmte Konzepte und Gedanken können in einer Sekunde aufhören. In sofern ist das Aufwachen generell kein Phänomen von Zeit. Wenn man eine Sprache lernt, ist das ein Phänomen von Zeit. Stück für Stück lernst du es besser und übst es besser. Aufwachen ist nichts, was du erlernen kannst. Manche Menschen brauchen viel Zeit, bis sie dieses Aufhören zulassen können. Aber sie haben in dieser Zeit nicht wirklich etwas lernen müssen. Wie kann man solche Sachen beschreiben, wie den Mut haben, die Entschlossenheit haben, die Bereitwilligkeit haben. Es sind nicht Dinge, die eingeübt werden, und trotzdem braucht es für viele Menschen eine längere Zeit von innerer Entwicklung, von Auseinandersetzungen, von der Entwicklung der Fähigkeit des Anhaltens, auch des Einlassenkönnens auf Gefühle. Die Klarheit des Geistes zu entwickeln braucht mitunter eine längere Zeit.
F: Das werden wohl nur Menschen erleben, die sich danach ausrichten.
C: Nein. Eckart Tolle z. B. ist aufgewacht und hatte keine Ahnung davon. Er hat sich in keiner Weise bewusst darauf ausgerichtet. Und es gibt mehr Beispiele.
F: Er hat gar nichts in der Richtung gemacht?
C: Er hat weder etwas gelesen, noch gewusst, noch getan, noch gemacht. Ich kenne ein Frau, die ist vollkommen aufgewacht, die war vorher nur sehr krank. Sie hatte keine Ahnung, was das ist und was das sein soll.
F: Ein Krankheitsprozess kann also etwas verändern?
C: Auch bei Eckart Tolle ist sicher etwas verändert, aber er hat sich in keiner Weise bewusst darauf ausgerichtet oder hat irgendetwas bewusst getan. Er war einfach nur depressiv.
F: Das kann auch bedeuten, dass vielleicht ein Loslassungsprozess in ihm stattgefunden hat.
C: Das ist komplizierter.
F: Gibt es Ausschlusskriterien? Gibt es Menschen, bei denen du eher wahrnehmen würdest, dass sie sich damit befassen?
C: Nein, aber man sieht bei manchen, wie schwierig es ist, dass die dahin finden. So wie es heißt: Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Reicher in das Himmelreich. Wenn jemand nicht reich an Ländereien aber innerlich reich an Konzepten und Wünschen ist, dann wird er die größten Schwierigkeiten haben.
F: Ich denke auch, dass da schon ein Sog in die Richtung sein muss. Ich kenne Leute, die viel machen mit esoterischen Sachen und sich dafür trotzdem nicht interessieren.
C: Ja. Ein Großteil des spirituellen und des Eso-Bereiches ist einfach eine andere Form von Traum, eine andere Form von Betäubung und Beschäftigung.
F: Ist das so etwas, was auch Ken Wilber beschreibt?
C: Auch, ja.
F: Du warst ja auch in dem Arbeitskreis von Ken Wilber.
C: Ich bin in dem Arbeitskreis.
F: Okay. Was von Wilbers Konzepten findest du denn besonders gut und brauchbar? Was könnte es unterstützen, sich in die Richtung das Aufwachens auszurichten?
C: Wovon ich gerne immer wieder erzähle ist das Beispiel von Treya Wilber und ihr Aufwachen. Ihr geistiger Lehrer war Ramana. Vom dem schreibt sie, dass er ihr immer wichtiger wurde. Sie wachte auf zu dem Zeitpunkt, als sie den Kampf gegen den Krebs aufgab in der Erkenntnis, dass sie den Tod annehmen müsste; und zwar mit dem Bewusstsein, jeden Tag sterben zu können. Im vollkommenen, tiefen Annehmen des Todes wachte sie auf.
Das ist auch etwas, was man in anderen Biografien finden kann. Das Fallen in die Bodenlosigkeit, das ich vorhin beschrieb, ist gleichzeitig die innere Bereitwilligkeit völlig zu sterben. In diesen Augenblick hinein zu sterben. Das bedeutet nämlich, keine Pläne für die Zukunft zu haben und zu machen und an nichts anzuhaften. Dann ist man vollständig im Augenblick. Die Beschreibung dieses Aufwachens, auch die Interpretation von Ken Wilber, finde ich ausgesprochen wertvoll. Als nächstes gefällt mir das Buch „Eros, Kosmos, Logos“ am besten. Das Buch zeigt einfach über die verschiedenen Kulturen und über die Philosophie des Abendlandes die Einheitlichkeit der Suche nach der Wahrheit, zeigt, wie zwingend immer wieder und wie gleichgerichtet durch die Jahrtausende diese Suche nach der Wahrheit erfolgte und erfolgreich was. Das macht die Selbstverständlichkeit des Aufwachens an sich und die Möglichkeit des Aufwachens sehr viel deutlicher. Das ist vielleicht auch noch ein wichtiger Punkt. Wir haben vorhin über das Verlangen, über den Wunsch des Aufwachens und auch über die spirituelle und Eso-Szene gesprochen. Auch da gibt es viele Menschen, die tatsächlich aufwachen wollen. Aber solange für jemanden das Aufwachen selbst nicht realisierbar erscheint und zwar für sich selber, nicht für irgendeinen Buddha oder irgendeinen im Himalaya Lebenden, solange es nicht wirklich als realisierbar vor Augen ist, solange wird es deine innere Energie und Kraft nicht darauf ausrichten.
F: Das hast du vorhin ja schon gesagt.
C: Es braucht nicht nur den Wunsch, sondern das Wissen über die Realisierbarkeit.
F: Ja, das ist vielleicht noch ein wichtiger Punkt. Also heißt das, es wäre gut, wenn ich „Eros, Kosmos, Logos“ lese, aber da bin ich erst einmal 500 Seiten lang abgelenkt.
C: Macht ja nichts. Wach während dessen auf. Mein eigener Eindruck über Ken Wilber ist der, dass er im Zuge der Begleitung von Treya und in der Verarbeitung ihres Todes aufgewacht ist, das aber für sich selber nicht richtig reflektiert hat, sondern sein eigenes Erwachen seinen buddhistischen Übungen zuschreibt. Das ist mein persönlicher Eindruck von Ken Wilber. Ich glaube, dass von den ganzen Büchern „Eros, Kosmos, Logos“ am stärksten den Geist des Aufwachens und den Geist der inneren Befreiung atmet, viel mehr als irgendwelche Bücher sonst von ihm.
F: Wir waren doch bei diesen Leuten, die sich sehr stark mit sich selber und in dem Fall auch mit dem Aufwachen beschäftigen. Sind das nicht auch Leute, die gefährdet sind, die sich einfach nur mit sich selber beschäftigen, narzisstisch, selbstorientiert? Könnte das auch ein neurotisches Muster sein, zu sagen: „Ich will aufwachen.“, ohne es ernsthaft zu betreiben?
C: Ja, kann. Ich glaube, dass diese Menschen in meinen Gruppen nach kurzer Zeit wieder weg bleiben, weil sie nicht bedient werden. Sie treffen sich immer wieder in sogenannten Satsangs, weil sie die Energie, das Heilsein während des Zusammenseins mit dem spirituellen Lehrer so sehr schätzen und so sehr wünschen, dass es den Charakter von Flucht haben kann oder von einer neuen Droge. Es gibt ganz sicher Satsang-Lehrer, die diese Bedürfnisse bedienen.