Das Corona-Virus und die innere kopernikanische Wende
Was hat das Corona-Virus mit der Spiritualität zu tun? Oft scheint es in der Diskussion nichts zu geben zwischen der Verkündigung von absoluten Wahrheiten und einer ängstlichen Haltung, dass man gar nichts wissen könne, dass alles Gesagte unrichtig, ja gelogen sei. Und überall die Vereinfachung, es gebe zwei Lager, die wie im Krieg meistens Fronten genannt werden.
Die Möglichkeit des Gesprächs, des Abwägens, des Nach-Denkens scheint verschwunden, auch dass es eine dritte, eine vierte, eine fünfte Position und Meinung geben könnte.
Das ist traurig. Das ist eine gesellschaftliche Krise. Je größer die Unsicherheit über die Zukunft und über das Handeln, desto stärker das Verkünden absoluter Wahrheiten, um sich an etwas festhalten zu können. Auch auf Seiten des Staates. Welche Meinung man zum Impfen auch haben mag, die einseitige Orientierung ist pure Dummheit und erzeugt und verschärft die gesellschaftliche Spaltung. Was ist mit der Stärkung der Immunkräfte? Eine Diskussion darüber, was Gesundheit ist? Was Gesundheit fördert und erhält? Was ist mit unserem Lebenswandel?
Es hat immer wieder wichtige gesellschaftliche Diskussionen gegeben, die Gesellschaft ist daran gewachsen und jetzt besteht die Gefahr, dass sie Schaden nimmt. Und es ist unsere Aufgabe, für Verstehen und Verständnis, für Offenheit und Respekt einzutreten, wo es möglich ist.
Wohin mit der Wut?
Zu Anfang der Krise habe ich ein Retreat gemacht, dessen wichtigste Teile in dem Buch „Angst, Schmerz, Wut, Ohnmacht – Durch Gefühle Freiheit finden, gerade in Zeiten einer Krise“ veröffentlicht sind. Eine Entdeckungsreise zu den Gefühlen, um sie lösen zu können. Wut wurde immer wieder voller Überraschung entdeckt. Wir können doch nicht auf ein Virus wütend sein? Damit wird die Wut verdrängt, sie bleibt im Untergrund und wird dann, unerlöst, auf irgendetwas anderes gerichtet. Bedrohung und Einschränkung erzeugt Wut; Wut auf das Schicksal, auf die Bedrohung. Und sie muss akzeptiert werden, weil sie da ist, die Wut ist zu fühlen, auszuhalten und dadurch zu erlösen. Nur dadurch bleiben wir lebendig. Aber, und das ist vielleicht noch wichtiger, dadurch erst vertieft sich das Loslassen, und das Loslassen ist die grundlegendste Bedingung für das Aufwachen. Dem Aufwachen dient nicht, Gefühle nur zu wissen und zu beobachten, weil sie sich dadurch nicht lösen. Damit entstehen viele Fragen über herkömmliche Meditation, in der vielleicht stundenlang der Atem beobachtet und dadurch Gefühle beiseitegeschoben werden.
Was aber geschieht mit der Wut, wenn sie verdrängt wird? Sie richtet sich auf die Ungeimpften oder die Geimpften oder Die-da-oben. Oder gegen sich selbst. Und wirkt überall zerstörerisch.
Die spirituelle Krise und die „Innere kopernikanische Wende“
Das Virus ist Teil einer Naturkrise, die wir zu verantworten haben. Wissenschaftler aus der Biologie sagen, dass die Krise als Folge des Aussterbens von Arten schlimmer sein wird als alle anderen Krisen. Was machen wir, wenn es nicht mehr genug Bienen gibt? Wir nehmen den Tieren den Lebensraum, sodass Viren immer häufiger auf den Menschen überspringen.
Es ist eine geistige, eine spirituelle Krise. Die Neuzeit und die Post-Neuzeit leben mit dem Mythos von Macht und Kontrolle. Wir könnten immer größere Macht und Kontrolle über die Natur, über den Menschen, über die Welt erringen und dadurch alle Probleme lösen. Und manchen dämmert es, genau das ERZEUGT Probleme. Der Mensch, der sich als den Mittelpunkt von allem sieht, um den die anderen Menschen und die Natur zu kreisen haben, hätte zu realisieren, dass jeder einzelne und die Menschheit nur ein Teil vom Ganzen ist. Dass wir gemeinsam kreisen um etwas Größeres. Ein Philosoph hat dies die „Innere kopernikanische Wende“ genannt, viel wesentlicher und wirkungsvoller als die Veränderung unseres Wissens über die Sonne. Ja, das würde uns demütiger machen. Da würden wir mit unserer Ichhaftigkeit zurücktreten. Das wäre ein wichtiger spiritueller Schritt, das wäre ein Schritt auf die Erleuchtung hin, in der sich die gesamte Ich-Idee als eine Illusion zeigt.
Die Kultur einschließlich der Wirtschaft war über Jahrtausende der Weg, uns vor den Gefahren der Natur zu SCHÜTZEN. Jetzt haben wir Technik und Wirtschaft so sehr entwickelt, dass sie zur GEFAHR für die Natur und unsere Lebensgrundlagen geworden sind, eine existentielle Krise. Guardini schrieb diesen Gedanken 1949 (!), geradezu prophetisch klingt er im Nachhinein.
Das Virus hat gezeigt, dass die Sicherheit in der materiellen Sphäre immer brüchig ist und bleiben wird. Es ist ja nicht so, dass der atheistische Mensch keine Religion hätte. Er betet nur anderes an. Die Wissenschaft. Das Wachstum. Das Geld. Die Macht. Die Kontrolle.
Zu Anfang der Zeit des Virus gab es einen großen Schrecken, aber auch große Hoffnung. Dass dieses erzwungene Innehalten die Menschen zum Nachdenken bringen würde. Über unsere Art zu leben, darüber was wir aus unserem Leben machen. Darüber, was wirklich zählt. Dass wir langsamer machten. Die Mitmenschlichkeit, wo Kontakte weniger wurden, wurde plötzlich wertvoller. Die Krise könnte wie ein kosmischer Weckruf wirken. Was ist übrig geblieben von dieser Hoffnung? Das macht traurig und schmerzt. Zu dem Leid, dass das Virus erzeugt hat, kommt der Schmerz, dass all dieses Leid umsonst gewesen sein könnte.
Der Weg zum Glück und die Erleuchtung
Die Weisen dieser Welt wissen es seit tausenden von Jahren: Der Weg zum Glück und zur Glückseligkeit geht nach Innen. Gerade weil die Objekte und Erlebnisse in der äußeren Welt nie die versprochene Erfüllung bringen, müssen Sie immer größer, immer fantastischer, immer Reiz-intensiver werden, ganz so wie der Drogensüchtige die Dosis ständig erhöhen muss. Das ist der eigentliche Grund für die Entgleisung des Wachstums. Es ist nicht einfach zu viel, die Richtung stimmt nicht. Unbegrenztheit gibt es nur in der spirituellen, nicht in der materiellen Dimension. Der Mensch hat eine tiefe Ahnung und Sehnsucht nach dieser Unbegrenztheit. Weil er diese spirituelle Sehnsucht nach der Unendlichkeit verdrängt, tobt er sie als ein materielles Streben aus.
Ja, ich erlebe, dass sich gegenwärtig mehr Menschen dem Spirituellen zuwenden. Aber auch, dass viele leiden unter Resignation und Hoffnungslosigkeit. Dabei ist Erleuchtung nicht ein Rückzug von der Welt. Natürlich wird dann vieles langsamer. Das Getrieben-sein hört auf. Von denen, die Erleuchtung gefunden haben, geht Frieden aus. Menschen, das ist offensichtlich, tut es gut, in der Nähe von aufgewachten Menschen zu sein. Es öffnet sie. „Satsang“ heißt übersetzt: Zusammensein in Wahrheit. Auf Retreats oder Treffen äußert immer wieder jemand seine Verwunderung darüber, wie viele intensive innere Prozesse geschehen, intensive Entdeckungen über die innere Wahrheit, über tiefere Wünsche und Gefühle. Ja, der aufgewachte Lehrer, die aufgewachte Lehrerin stellen einen Bewusstheits-Raum zur Verfügung als eine Einladung. Es wird begonnen, solche Bewusstheits-Räume wissenschaftlich zu erforschen und zu belegen. Es ist kein Rückzug von der Welt, allerdings das Ende des Anbetens von Wachstum, Macht, Geld und materieller Kontrolle.
Gegenwärtig heißt spirituell sein auch, wo es geht, für Verstehen, Verständigung und Respekt einzutreten. Für die Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, von Unsicherheit auch. Tatsächlich ist Sicherheit ganz woanders zu finden, in einer Tiefe, von der die meisten Menschen noch nicht mal eine Ahnung haben. Dadurch wird das Materielle nicht sicherer. Manche glauben in ihrer Einfalt, dass der spirituelle Mensch sich die Welt schön-reden würde, schön-meditieren sozusagen. Nein. Er oder sie hat nur entdeckt, dass Erfüllung, und zwar unendlich viel größer als der Mensch glaubt, woanders zu finden ist. Durch die eigene innere Tiefe hindurch. In der Unendlichkeit.
Erleuchtung ist möglich für jeden
Das eigentliche Ziel der Spiritualität ist die Erleuchtung. Aber auch im spirituellen Raum geben sich viel zu viele mit so viel weniger zufrieden, halten Erleuchtung gar nicht für möglich. Immer wieder verwundert mich das, und oft ist es sehr schmerzlich. Die spirituelle Suche wird eingeschränkt aus Resignation, viele haben schon so lange versucht, Erleuchtung zu finden, dass sie aufgegeben haben. Bleibt da noch Raum für das Nachdenken, dass man es bisher vielleicht nur mit den falschen Mitteln versucht hat? Ich erlebe in meinen Retreats, dass Aufwachen wirklich geschieht. Gegenwärtig mache ich erneut über viele Monate ein Training nur für Schülerinnen und Schüler, die aufgewacht sind. Mit über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das zeigt nicht nur, dass in meiner Arbeit Aufwachen geschieht, sondern auch dass wir uns inzwischen immer mehr mit der Vertiefung der Erleuchtung befassen.
Menschen darin zu unterstützen, Erleuchtung zu finden, ist das eine. Es ist auch wichtig, dass in der öffentlichen Diskussion, auch im Mainstream, in der Mitte der Gesellschaft, nicht nur Spiritualität, sondern auch das Aufwachen und die Erleuchtung präsent werden. Als eine wertvolle Option für das Leben. So viele Menschen fühlen die innere Sehnsucht, und viel zu oft wird nicht erkannt, worauf sie sich richtet. Die Welt hat es dringend nötig. Es könnte damit anfangen, dass in der spirituellen Szene über das Aufwachen, über Erleuchtung konkreter gesprochen wird. Wie es geschehen kann, was dazu hilft, und woran es liegt, dass es insgesamt viel öfter geschehen könnte.
Wenn so die Krise dazu führen würde, dass vielen Menschen wieder deutlicher wird, was wirklich wichtig ist, dann hätte die Krise auch ihr Gutes.